Neuromancer-Trilogie
in rauen Mengen einkaufte.
»Äh, sag mal, Leon«, begann Bobby erneut, »haste Two-a-Day in letzter Zeit hier gesehn?«
Die schrecklichen Augen richteten sich wieder auf ihn und starrten ihn entschieden zu lange an. »Nein.«
»Gestern Abend vielleicht?«
»Nein.«
»Oder vorgestern?«
»Nein.«
»Tja. Okay. Danke.« Es war zwecklos, Leon auszuquetschen, und auch nicht ratsam. Bobby sah sich in dem großen, schummrigen Raum um, betrachtete die Simstim-Geräte und die dunklen Kinobildschirme. Der Club bestand aus einer Reihe nahezu identischer Räume im Untergeschoss eines Mischblocks für Singles und vereinzelte Kleingewerbebetriebe. Gute Schallisolierung – draußen hörte man praktisch nichts von
der Musik. In den vielen Nächten, in denen Bobby mit einem Brummschädel vom Lärm und von den Tabletten aus dem Leon’s gekommen war, hatte er sich in einem magischen Vakuum der Stille wiedergefunden, so dass ihm auf dem ganzen Heimweg durch Big Playground die Ohren geklungen hatten.
Jetzt blieb ihm noch etwa eine Stunde, bis die ersten Gothicks eintrudelten. Die Dealer, meist Schwarze aus den Projects oder Weiße aus der City oder einem anderen Vorort, würden erst auftauchen, wenn ein paar Gothicks da waren, die sie in die Mache nehmen konnten. Es gab nichts Schlimmeres für einen Dealer, als untätig rumzusitzen, denn das bedeutete, dass man nichts los wurde; kein richtig heißer Dealer würde nur so zum Vergnügen im Leon’s abhängen. Im Leon’s trafen sich die Feierabend-Hotdogger mit den billigen Decks, die sich japanische Eisbrecherfilme anschauten.
Aber Two-a-Day war anders, redete Bobby sich ein, als er die Betontreppe hinaufstieg. Two-a-Day war schon unterwegs, weg von den Projects, weg von Barrytown, weg vom Leon’s. Unterwegs in die City. Vielleicht sogar nach Paris oder Chiba. Der Ono-Sendai schlug ihm gegen das Rückgrat. Ihm fiel ein, dass Two-a-Days Eisbrecherkassette immer noch drinsteckte. Er legte absolut keinen Wert darauf, das irgendwem erklären zu müssen. Er kam an einem Zeitungskiosk vorbei. Ein gelbes Fax der New Yorker Asahi-Shimbun -Ausgabe lief über eine Plastikscheibe in der verspiegelten Seitenwand: eine Regierung in Afrika gestürzt, russische Meldungen vom Mars …
Es war die Tageszeit, in der man alles sehr klar sehen konnte, selbst noch die kleinsten Details die ganze Straße entlang: das knospende Grün an den schwarzen Zweigen der Bäume in ihren Löchern im Beton, den aufblitzenden Stahlbeschlag am Stiefel eines Mädchens einen Block weiter. Es war, als würde man durch ein besonderes Wasser schauen, das die Sicht verbesserte, obwohl es fast schon dunkel war. Bobby drehte sich
um und blickte zu den Projects hinauf. Ganze Etagen da oben blieben immerzu finster; entweder waren sie unbewohnt, oder die Fenster waren verdunkelt. Was mochte sich hinter ihnen abspielen? Vielleicht sollte er das mal Two-a-Day fragen.
Er schaute auf die Coke-Uhr des Kiosks. Seine Mutter würde mittlerweile aus Boston zurück sein, bestimmt; wenn nicht, würde sie eine ihrer Lieblingsserien verpassen. Neues Loch im Kopf. Sie war sowieso nicht ganz dicht, aber das lag nicht an der Buchse, die sie schon vor seiner Geburt gehabt hatte. Jahrelang hatte sie über deren atmosphärisches Rauschen, die schlechte Auflösung und die sensorischen Überlagerungen gejammert, und nun hatte sie endlich die Kohle zusammengekratzt, um sich das Ding in Boston auswechseln zu lassen. In irgend so einem Billigladen, in dem man nicht mal’nen OP-Termin bekam. Da ging man hin, und sie klatschten einem das Ding einfach so rein … Er kannte sie, ja. Wie sie mit einer eingepackten Flasche unterm Arm zur Tür reinkam, nicht mal den Mantel auszog, sondern schnurstracks rüberging und sich an den Hitachi ankoppelte, um sich für geschlagene sechs Stunden Schmalz ins Hirn zu pumpen. Ihr Blick verschwamm, und manchmal sabberte sie auch ein bisschen, wenn die Folge richtig gut war. Aber trotzdem schaffte sie es, so alle zwanzig Minuten daran zu denken, einen Damenschluck aus der Flasche zu nehmen.
So war sie schon immer gewesen, seit er denken konnte, und mit der Zeit war sie immer tiefer in ihr halbes Dutzend synthetische Leben abgeglitten, die Simstim-Phantasien in Fortsetzungen, die sich Bobby sein Leben lang hatte anhören müssen. Selbst heute noch beschlich ihn manchmal das unheimliche Gefühl, einige der Figuren, von denen sie faselte, seien Verwandte von ihm, reiche, schöne Tanten und Onkel, die vielleicht
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