Neuromancer-Trilogie
als wäre er völlig mit dem Fahren beschäftigt, und vermied es, in ihre Richtung zu schauen.
»Das Ding in meinem Kopf. Aber normalerweise nur, wenn ich schlafe.«
»So?« Er erinnerte sich an das Weiße ihrer Augen in Rudys Schlafzimmer, an das Zittern und den Wortschwall in einer Sprache, die er nicht verstand.
»Manchmal auch, wenn ich wach bin. Es ist, als würde ich an einem Deck hängen, nur bin ich vom Gitter unabhängig, ich fliege, und ich bin nicht allein. Neulich hab ich von einem Jungen geträumt, der hat die Hand ausgestreckt und irgendwas aufgehoben, und das hat ihm wehgetan, und er hat gar nicht gemerkt, dass er frei war und nur loszulassen brauchte. Also hab ich’s ihm gesagt. Und ich konnte eine kurze Sekunde lang sehen, wo er war, und das war gar nicht wie im Traum – ein hässliches kleines Zimmer mit einem dreckigen Teppich. Ich hab gleich gesehen, dass er unter die Dusche gehörte, und gespürt, dass seine Schuhe innen feucht und klebrig waren, weil er keine Socken anhatte … Die Träume sehen anders aus.«
»Ach.«
»Ja. In den Träumen sind immer nur riesengroße Dinger, und ich bin auch groß, ich bewege mich mit den andern …«
Turner atmete, als das Hover die Betonauffahrt zum Interstate hinaufheulte. Erst jetzt merkte er, dass er die Luft angehalten hatte. »Mit welchen andern?«
»Den Weisen.« Schweigen. »Keine Menschen …«
»Bist du viel im Cyberspace, Angie? Ich meine, hängst du oft am Deck?«
»Nein. Nur was man in der Schule so macht. Mein Vater sagt, das ist nicht gut für mich.«
»Und was sagt er zu den Träumen?«
»Nur dass sie realer geworden sind. Aber von den andern hab ich ihm nie was erzählt.«
»Willst du’s mir erzählen? Vielleicht versteh ich’s dann besser und kann mir überlegen, was wir tun müssen.«
»Manche von denen erzählen mir was. Geschichten. Früher war nichts da, nichts, was sich aus eigenem Antrieb bewegt hat, nur Daten und Leute, die sie rumschoben. Dann ist was passiert, und es … es wusste Bescheid über sich. Da gibt’s eine andere Geschichte drüber, von einem Mädchen mit Spiegeln über den Augen und einem Mann, der schreckliche Angst vor Gefühlen hatte. Der Mann hat was gemacht, was dem ganzen Ding geholfen hat, über sich Bescheid zu wissen … Und danach hat es sich irgendwie aufgesplittert, und diese verschiedenen Teile sind die andern, glaube ich, die Weisen. Aber es ist schwer zu sagen, weil sie ’s eigentlich nicht mit Worten ausdrücken …«
Turner spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Irgendwas kam wieder nach oben, aus der verdrängten Unterströmung von Mitchells Dossier. Brennende Scham auf einem Flur, schmutzig weiße, abblätternde Farbe, Cambridge, das Studentenwohnheim … »Wo bist du geboren, Angie?«
»In England. Dann ist mein Vater zu Maas gegangen, und wir sind umgezogen. Nach Genf.«
Irgendwo in Virginia lenkte er das Hovercraft über das Schotterbankett auf eine überwucherte Weide. Staub des trockenen Sommers wirbelte hinter ihnen auf, als er nach links in ein Kiefernwäldchen einbog. Die Turbine erstarb, und sie sanken auf die Luftkissenschürze herunter.
»Dann wollen wir mal was essen«, sagte er und langte nach hinten, wo Sallys Segeltuchtasche stand.
Angie löste den Gurt und öffnete den Reißverschluss ihres schwarzen Sweatshirts. Darunter trug sie etwas Enganliegendes, Weißes; im Halsausschnitt über den Mädchenbrüsten war die glatte, sonnengebräunte Haut eines Kindes zu sehen. Sie nahm die Tasche entgegen und wickelte Sallys Sandwiches aus. »Was ist los mit deinem Bruder?«, fragte sie und gab ihm ein halbes Sandwich.
»Wie meinst du das?«
»Na ja, er hat doch was … Er trinkt ständig, sagt Sally. Ist er unglücklich?«
»Weiß ich nicht.« Turner krümmte und reckte sich, um die schmerzende Verkrampfung in Hals und Schultern loszuwerden. »Na ja, wird wohl so sein, aber warum, weiß ich nicht so genau. Bei manchen Leuten geht eben nichts mehr voran.«
»Du meinst, wenn sie keine Firmen haben, die sich um sie kümmern?« Sie biss in ihr Sandwich.
Er sah sie an. »Willst du mich verarschen?«
Sie nickte mit vollem Mund und schluckte. »Ein bisschen. Ich weiß, dass viele Leute nicht für Maas arbeiten. Es nie getan haben und auch nie tun werden. Du bist so einer, dein Bruder auch. Aber es war eine echte Frage. Ich hab Rudy irgendwie gemocht, weißt du? Aber ich finde, er war so …«
»Verkorkst«, vervollständigte er, das Sandwich noch in der Hand. »In
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