Neuromancer-Trilogie
der Sackgasse. Ich glaube, manche Leute müssen irgendwann mal’nen Sprung machen, und wenn sie’s nicht tun, bleiben sie endgültig stecken … Und Rudy hat den Absprung nicht geschafft.«
»Dass mein Vater mich von Maas weghaben wollte, ist das ein Sprung?«
»Nein. Zu manchen Sprüngen muss man sich selber entscheiden. Stell dir vor, irgendwo wartet was Besseres auf dich …« Er hielt inne, weil er sich plötzlich lächerlich vorkam, und biss in sein Sandwich.
»Hast du so gedacht?«
Er nickte und fragte sich dabei, ob es stimmte.
»Also bist du gegangen, und Rudy ist geblieben?«
»Er war intelligent. Ist er immer noch. Hat’ne ganze Reihe Abschlüsse gemacht, hat richtig studiert. Mit zwanzig hat er in Tulane seinen Doktor in Biotechnik gemacht, und dann noch andere Sachen. Hat nie eine Bewerbung rausgeschickt,
nichts. Von überallher sind Anwerber bei uns aufgetaucht, die ihn haben wollten, aber er hat ihnen nur Scheiße erzählt, sich mit ihnen angelegt … Ich glaube, er war der Meinung, er könnte selber was aufbauen. Wie das mit den Hundehauben zum Beispiel. Da hat er sogar richtige Patente, soweit ich weiß, aber … Jedenfalls ist er dageblieben. Hat mit dem Handeln angefangen und Hardware für irgendwelche Leute entwickelt. War’ne heiße Adresse in der Gegend. Und dann ist unsere Mutter krank geworden. Sie war lange krank, und ich war ja weg …«
»Wo warst du?« Sie schraubte die Thermoskanne auf; Kaffeeduft breitete sich in der Kabine aus.
»So weit weg, wie ich nur konnte«, sagte er und wunderte sich über den Unmut in seiner Stimme.
Sie reichte ihm den Plastikbecher. Er war bis zum Rand mit heißem schwarzem Kaffee gefüllt.
»Wie steht’s mit dir? Du hast gesagt, du kennst deine Mutter nicht.«
»Ja. Sie haben sich getrennt, als ich noch klein war. Sie wollte nicht wieder in den Vertrag einsteigen, wenn er sich nicht bereit erklärte, sie an einer Art Anlageplan zu beteiligen. Das hat er jedenfalls gesagt.«
»Wie ist dein Vater so?« Er trank einen Schluck Kaffee und gab ihr den Becher zurück.
Die von Sallys Make-up umringten Augen sahen ihn über den Rand des roten Plastikbechers hinweg an. »Was weiß ich«, sagte sie. »Frag mich in zwanzig Jahren noch mal. Ich bin erst siebzehn, woher zum Teufel soll ich das wissen?«
Er lachte. »Geht’s dir allmählich besser?«
»Glaub schon, den Umständen entsprechend …«
Und plötzlich nahm er sie auf eine Weise wahr wie noch nie zuvor, so dass er hastig nach den Schaltern griff. »Gut. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«
In dieser Nacht schliefen sie im Hovercraft, das er hinter dem rostigen Stahlgerüst einer ehemaligen Autokinoleinwand in Süd-Pennsylvania geparkt hatte. Turners Parka lag ausgebreitet auf den Panzerstahlboden unter dem länglichen Turbinenwulst. Angie hatte in der rechteckigen Luke überm Beifahrersitz gesessen, den letzten Rest des mittlerweile kalten Kaffees ausgetrunken und die Glühwürmchen beobachtet, die übers gelb verfärbte Gras schwirrten.
Irgendwo in seinen Träumen – die immer noch von wahllosen Splittern aus dem Dossier über ihren Vater gefärbt waren – kuschelte sie sich an ihn, so dass er die weichen, warmen Brüste unter dem dünnen Stoff ihres T-Shirts an seinem bloßen Rücken spürte, und dann schlang sie den Arm um ihn und streichelte die flachen Muskeln an seinem Bauch, aber er blieb still liegen, stellte sich schlafend und fand bald den Weg in die dunkleren Winkel von Mitchells Biosoft, wo sich seltsame Dinge mit seinen eigenen frühesten Ängsten und Schmerzen vermischten. Und beim Morgengrauen erwachte er und hörte sie auf ihrem Ausguck oben in der Dachluke leise vor sich hinsingen.
»Mein Vater ist ein hübscher Teufel
mit einer Kette, die neun Meilen misst .
An jedem Glied ein Herz
von all den Mädchen ,
die er erst liebt
und dann verstößt.«
22
Im Jammer’s
Das Jammer’s war zwölf stehende Rolltreppen weiter oben und nahm das hintere Drittel des obersten Stockwerks ein. Auf Bobby, der außer dem Leon’s keinen Nightclub kannte, wirkte es faszinierend und unheimlich zugleich. Faszinierend, weil es so groß und in seinen Augen exklusiv ausgestattet war, und unheimlich, weil ein Nachtclub bei Tag von Natur aus etwas Unwirkliches, Gespenstisches hat. Die Daumen in die Gesäßtaschen seiner neuen Jeans gehakt, schaute er sich um, während Jackie sich flüsternd mit einem Weißen unterhielt, der ein längliches Gesicht hatte und einen zerknitterten
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