Neuromancer-Trilogie
Lichtung war bereits ein besonderer Ort, weil seine Mutter im Jahr davor mit ihm dorthingegangen war und ihm ein Flugzeug gezeigt hatte, ein echtes Flugzeug weiter hinten unter den Bäumen. Es versank allmählich im Lehm, aber man konnte sich ins Cockpit setzen und so tun, als würde man fliegen. Es sei ein Geheimnis, hatte seine Mutter gesagt, und er dürfe außer mit Vater mit niemandem darüber reden. Wenn man die Hand auf die Flugzeughülle aus Kunststoff legte, änderte die Hülle die Farbe, so dass ein Abdruck von der Farbe des Handtellers auf ihr zurückblieb. Aber dann war Mutter ganz komisch geworden und hatte geweint und über seinen Onkel Rudy sprechen wollen, an den er sich nicht mehr erinnerte. Auch Onkel Rudy war etwas, das er nicht verstand, so wie einige Scherze seines Vaters. Einmal hatte er seinen Vater gefragt, wieso seine Haare rot seien und woher er die hätte, und da hatte sein Vater nur gelacht und gesagt: vom Holländer. Da hatte Mutter ein Kissen nach Vater geworden, und er hatte nie herausgekriegt, wer der Holländer war.
Auf der Lichtung brachte sein Vater ihm das Schießen bei, indem er Kiefernholzstücke an einem Baumstamm aufstellte. Als der Junge keine Lust mehr hatte, legten sie sich auf den Rücken und sahen den Eichhörnchen zu. »Ich hab Sally versprochen, dass wir nichts totschießen«, sagte sein Vater und erklärte ihm dann, worauf es bei der Eichhörnchenjagd ankam. Der Junge hörte ihm zu, träumte dabei jedoch immer noch von dem Flugzeug. Es war heiß, und man hörte irgendwo in der Nähe Bienen summen und Wasser über Felsen plätschern. Damals hatte seine Mutter unter Tränen gesagt, Rudy sei ein guter Mann gewesen, er habe ihr das Leben gerettet, indem er sie einmal vor jugendlichem Leichtsinn bewahrte – und einmal vor einem richtig bösen Mann …
»Stimmt das?«, fragte er seinen Vater, als dieser mit seinen Ausführungen über die Eichhörnchen fertig war. »Sie sind so dumm, dass sie immer wieder zurückkommen und sich abschießen lassen?«
»Ja«, sagte Turner. Dann lächelte er. »Das heißt, fast immer.«
Mona Lisa Overdrive
1
Smoke
Der Geist war das Abschiedsgeschenk ihres Vaters. Ein schwarzgewandeter Sekretär hatte es ihr in einer Abflughalle von Narita überreicht.
Während der ersten beiden Stunden des Fluges nach London lag es unbeachtet in ihrer Tasche, ein glattes, dunkles, rechteckiges Ding, das allgegenwärtige Logo von Maas-Neotek eingeprägt auf einer Seite; die andere war leicht gerundet, so dass es gut in der Hand lag.
Sie saß kerzengerade an ihrem Platz in der Ersten Klasse. Ihre Züge waren zu einer kleinen, kalten Maske erstarrt, die dem charakteristischsten Gesichtsausdruck ihrer toten Mutter nachempfunden war. Die Plätze um sie herum waren leer; ihr Vater hatte sie ebenfalls reserviert. Sie lehnte das Essen ab, das der nervöse Steward anbot. Die freien Plätze – Zeichen für den Reichtum und Einfluss ihres Vaters – schüchterten ihn ein. Der Mann zögerte, verbeugte sich dann und zog sich zurück. Ganz kurz ließ sie das Lächeln ihrer Mutter über die Maske huschen.
Geister, dachte sie später, irgendwo über Deutschland, den Blick auf den gepolsterten Nebensitz gerichtet. Wie gut Vater seine Geister behandelte.
Auch draußen vor den Fenstern waren Geister, in der Stratosphäre des europäischen Winters, bruchstückhafte Bilder, die sich zu formen begannen, wenn sie den Blick verschwimmen
ließ. Ihre Mutter im Ueno Park, das zarte Gesicht in der Septembersonne. »Die Kraniche, Kumi! Schau, die Kraniche!« Und Kumiko schaute auf den Shinobazu-Teich hinaus und sah nichts, keine Spur von Kranichen, nur ein paar hüpfende schwarze Punkte, bei denen es sich bestimmt um Krähen handelte. Das Wasser war seidenglatt und bleigrau, und blasse Hologramme flimmerten undeutlich über einer fernen Reihe von Schießständen für Bogenschützen. Später sollte Kumiko die Kraniche jedoch oft sehen, und zwar in ihren Träumen; Origami-Kraniche, aus neonbunten Papierbögen gefaltete, eckige Gebilde, bunte, starre Vögel, die durch die Mondlandschaft des umnachteten Geistes ihrer Mutter segelten.
Sie dachte an ihren Vater mit der wilden Schar eintätowierter Drachen unter dem offenen schwarzen Gewand, zusammengesunken hinter der riesigen Ebenholzfläche seines Schreibtischs, die Augen stumpf und glänzend wie die Augen einer bemalten Puppe. »Deine Mutter ist tot. Verstehst du?« Und ringsum die Schattenflächen in seinem Arbeitszimmer, die
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