Neuromancer-Trilogie
Verkehrs zu hören.
Es war kalt im Zimmer; sie zog die rosa Steppdecke wie ein Zelt um sich und stand auf. Eisblumen glänzten an den kleinen Fenstern. Sie ging zur Wanne und drückte auf einen der
vergoldeten Schwanenflügel. Der Vogel hustete, gurgelte und spie Wasser in die Wanne.
In die Decke gehüllt, öffnete sie ihre Koffer und machte sich daran, die Kleidung für den Tag auszusuchen. Die ausgewählten Stücke breitete sie auf dem Bett aus.
Als ihr Bad fertig war, ließ sie die Decke zu Boden gleiten, stieg über den Marmorrand und tauchte stoisch ins schmerzhaft heiße Wasser. Die Eisblumen waren im Dampf aus der Wanne geschmolzen; jetzt rann Kondenswasser die Scheiben herab. Ob in jedem englischen Schlafzimmer eine solche Badewanne stand? Sie wusch sich systematisch mit einem ovalen Stück französischer Seife, stand auf, spülte den Seifenschaum ab, so gut es ging, wickelte sich in ein großes schwarzes Badetuch und fand nach einigem Suchen Waschbecken, WC und Bidet. Diese waren in einem winzigen Raum versteckt, der früher ein begehbarer Wandschrank gewesen sein mochte und mit dunklem Holz getäfelt war.
Das wie ein Bühnenrequisit aussehende Telefon läutete zweimal.
»Ja?« »Petal. Wie wär’s mit Frühstück? Roger ist da. Will dich endlich kennenlernen.«
»Danke«, sagte sie. »Ich ziehe mich gerade an.«
Sie schlüpfte in ihre beste, voluminöseste Lederhose, wühlte sich in einen haarigen blauen Pullover, der so groß war, dass er leicht Petal gepasst hätte. Als sie ihre Handtasche aufmachte, um ihre Schminksachen herauszuholen, sah sie das Maas-Neotek-Gerät. Ihre Hand schloss sich automatisch darum. Sie hatte ihn gar nicht rufen wollen, aber die Berührung genügte; da war er, reckte ulkig den Hals und bestaunte die niedrige, verspiegelte Zimmerdecke.
»Wir sind doch wohl nicht im Dorchester, oder?«
»Ich stelle hier die Fragen«, sagte sie. »Was ist das hier?«
»Ein Schlafzimmer«, erklärte er. »Von ziemlich zweifelhaftem Geschmack.«
»Beantworte bitte meine Frage.«
»Nun«, sagte er und beäugte das Bett und die Wanne, »der Ausstattung nach zu schließen, könnte es ein Bordell sein. Ich habe Zugriff auf die historischen Daten der meisten Gebäude von London, aber zu diesem Haus gibt’s nichts Besonderes zu sagen. Erbaut 1848. Gediegenes Exemplar des weit verbreiteten viktorianischen Stils in klassischer Ausprägung. Teure, aber keineswegs vornehme Wohngegend, in gewissen Anwaltskreisen beliebt.« Er zuckte mit den Achseln; sie konnte die Bettkante durch seine auf Hochglanz polierten Reitstiefel sehen.
Sie warf das Gerät in die Tasche, und er war weg.
Mit dem Lift kam sie ganz gut zurecht; im weißgestrichenen Foyer unten angelangt, folgte sie den Stimmen. Durch einen Gang. Um eine Ecke.
»Guten Morgen«, sagte Petal und hob den silbernen Deckel von einer Servierplatte. Dampf stieg auf. »Das da ist Mr. Swain, der sich so selten zeigt, Roger für dich, und hier ist dein Frühstück.«
»Hallo«, sagte der Mann und kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Blasse Augen in einem schmalen, grobknochigen Gesicht. Glattes, mausgraues Haar, diagonal über die Stirn gekämmt. Kumiko sah sich außerstande, sein Alter zu schätzen. Es war ein jugendliches Gesicht, allerdings mit tiefen Falten unter den grauen Augen. Er war groß und hatte Arme und Schultern wie ein Athlet. »Willkommen in London!« Er nahm ihre Hand, drückte sie und ließ sie wieder los.
»Danke.«
Er trug ein kragenloses Hemd mit hauchfeinen roten Streifen auf blassblauem Grund und schlichten ovalen Manschettenknöpfen aus mattem Gold; es stand am Hals offen, wo es
den Blick auf ein dunkles Dreieck tätowierter Haut freigab. »Ich habe heute Morgen mit deinem Vater gesprochen und ihm erzählt, dass du wohlbehalten angekommen bist.«
»Sie sind ein Mann von Rang.«
Die fahlen Augen wurden schmal. »Wie bitte?«
»Die Drachen.«
Petal lachte.
»Lasst sie essen«, sagte eine Frauenstimme.
Kumiko wandte sich um und entdeckte die schlanke, dunkle Gestalt vor den hohen, mit Mittelpfosten versehenen Fenstern. Draußen vor den Fenstern ein schneebedeckter, von Mauern umschlossener Garten. Die Augen der Frau waren hinter silbernen Brillengläsern verborgen, in denen sich der Raum und die Personen darin spiegelten.
»Ebenfalls ein Gast von uns«, sagte Petal.
»Sally«, sagte die Frau. »Sally Shears. Nun iss schon, Schätzchen. Wenn du dich auch so langweilst wie ich, hast du bestimmt Lust auf’nen
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