Neuromancer-Trilogie
einer Videokamera hervor. Jemand hatte dort eine primitive Figur hingekritzelt, einen männlichen Torso mit der Kamera als Phallus. Als Sally einstieg und die Tür hinter sich zuwarf, kam aus einem Lautsprecher ein knarzendes Kauderwelsch, das Kumiko für einen englischen Dialekt hielt.
»Manhattan«, sagte Sally. Sie zog ein Bündel Geldscheine aus der Jackentasche und fächerte es unter der Kamera auf.
Aus dem Lautsprecher kamen fragende Laute.
»Midtown. Ich sag wohin, wenn wir da sind.«
Die Luftkissenschürze des Taxis blähte sich auf, das Licht in der Fahrgastkabine erlosch, und dann waren sie unterwegs.
18
Knast
Er war in Gentrys Loft und beobachtete Cherry, die sich um Gentry kümmerte. Cherry, die auf Gentrys Bettkante saß, schaute zu ihm herüber. »Wie geht’s dir, Slick?«
»Gut … Alles okay.«
»Erinnerst du dich, dass ich dich das schon mal gefragt hab?«
Er schaute in das Gesicht des Mannes hinunter, den Kid Afrika den Count nannte. Cherry hantierte am Aufbau der Trage mit einem Beutel herum, der eine haferschleimfarbene Flüssigkeit enthielt.
»Wie fühlst du dich, Slick?«
»Gut.«
»Irgendwas ist mit dir nicht in Ordnung. Du bist immer nur …«
Er saß in Gentrys Loft auf dem Boden. Sein Gesicht war nass. Cherry hockte dicht neben ihm und hatte die Hände auf seinen Schultern.
»Hast du gesessen?«
Er nickte.
»Chemo-Strafabteilung?«
»Ja.«
»Künstlich induzierter Korsakov?«
Er …
»Momente?«, fragte ihn Cherry. Er saß in Gentrys Loft auf dem Boden. Wo war Gentry? »Hast du öfter solche Momente? Aussetzer im Kurzzeitgedächtnis?«
Woher wusste sie das? Wo war Gentry?
»Was ist der Auslöser?«
»Was löst das Syndrom aus, Slick? Was wirft dich in die Knastzeit zurück?« Er saß in Gentrys Loft auf dem Boden, und Cherry war praktisch auf ihm drauf.
»Stress«, sagte er und wunderte sich, woher sie davon wusste. »Wo ist Gentry?«
»Den hab ich ins Bett gesteckt.«
»Warum?«
»Er ist zusammengeklappt. Als er das Ding gesehen hat …«
»Was für’n Ding?«
Cherry drückte ihm ein pinkfarbenes Derm aufs Handgelenk. »Starker Tranquilizer«, sagte sie. »Holt dich vielleicht wieder raus …«
»Wo raus?«
Sie seufzte. »Ach, nichts.«
Er wachte mit Cherry Chesterfield im Bett auf. Er war vollständig angezogen, bis auf Jacke und Stiefel. Die Spitze seines Steifen klemmte unter der Gürtelschnalle, presste sich an den warmen Jeansstoff über Cherrys Arsch.
»Komm nicht auf falsche Gedanken.«
Winterlicht fiel durch das zusammengeschusterte Fenster herein, und sein Atem dampfte weiß, als er sprach. »Was ist
passiert?« Warum war es so kalt hier? Er erinnerte sich an Gentrys Schrei, als das Ding auf ihn losging …
Er fuhr hoch und saß kerzengerade da.
»Nur die Ruhe«, sagte sie und rollte sich herum. »Leg dich hin. Ich hab keine Ahnung, weswegen du immer wieder wegsackst.«
»Wovon redest du?«
»Leg dich hin. Deck dich zu. Willst du erfrieren?« Er gehorchte. »Du warst im Knast, stimmt’s? In’ner Chemo-Strafabteilung.«
»Ja. Woher weißt du das?«
»Hast du mir gesagt. Gestern Abend. Du hast gesagt, Stress kann einen Rückfall auslösen. Und genau das ist passiert. Das Ding ist auf deinen Kumpel losgegangen, du bist zum Schalter gesprungen, hast den Projektionstisch ausgeschaltet. Er ist vornüber gekippt und hat sich dabei’ne Schnittwunde am Kopf geholt. Ich hab ihn verarztet, und dabei ist mir aufgefallen, dass du irgendwie komisch warst. Hab gemerkt, dass du dich immer nur noch so fünf Minuten am Stück erinnern konntest. Das gibt’s manchmal nach’nem Schock oder bei’ner Gehirnerschütterung.«
»Wo ist er? Gentry?«
»Oben in seinem Bett. Randvoll mit Sedativa. Bei der Verfassung, in der er war, konnte ihm ein Tag Schlaf nicht schaden, fand ich. Jedenfalls sind wir ihn damit für’ne Weile los.«
Slick machte die Augen zu und sah wieder das graue Ding vor sich, das auf Gentry losgegangen war. Ein Ding wie ein Mensch oder ein Affe. Was ganz anderes als die verschlungenen Gebilde, die Gentrys Geräte bei seiner Suche nach der Gestalt hervorbrachten.
»Ich glaube, der Strom ist weg«, meinte Cherry. »Vor ungefähr sechs Stunden ist hier drin das Licht ausgegangen.«
Er machte die Augen auf. Die Kälte. Gentry hatte sich noch nicht an die Konsole gesetzt. Slick stöhnte.
Während Cherry auf dem Butankocher Kaffee machte, ging er Little Bird suchen. Er fand ihn, indem er dem Rauchgeruch
Weitere Kostenlose Bücher