Neuromancer-Trilogie
hervor und blätterte darin. »Hier«, sagte er und zeigte auf eine kleine Karte mit einem unglaublich dichten Straßennetz. »Die Acre Lane runter.« Er griff sich einen blauen Filzstift und zeichnete den Weg auf eine raue graue Serviette.
»Danke«, sagte sie. »Jetzt werde ich gehen.«
Auf dem Weg zur Margate Road kam ihre Mutter zu ihr.
Sally war in Gefahr, irgendwo im Sprawl, und Kumiko baute darauf, dass Tick einen Weg wusste, mit ihr in Verbindung zu treten. Wenn nicht per Telefon, dann durch die Matrix. Vielleicht kannte Tick den Finnen, den Toten in der Gasse …
In Brixton beherbergte der Korallenstock der Metropole ein anderes Leben. Helle und dunkle Gesichter, unzählige Rassen, Backsteinfassaden mit einer Orgie von Farben und Symbolen, von denen die ursprünglichen Erbauer nicht einmal eine vage Vorstellung gehabt haben konnten. Aus einer offenen Pub-Tür, an der sie vorbeiging, pulste ihr ein Schlagzeugrhythmus entgegen, Hitze und lautes Gelächter. In den Läden gab es Lebensmittel, die Kumiko noch nie gesehen
hatte, bunte Stoffballen, chinesische Werkzeuge, japanische Kosmetika …
Als sie vor diesem hell erleuchteten Fenster mit seiner Palette von Stiften und Pudern in allen möglichen Farbtönen innehielt und das Spiegelbild ihres eigenen Gesichts in dem silbernen Hintergrund sah, spürte sie, wie sich der Tod ihrer Mutter aus der Nacht auf sie herabsenkte. Mutter hatte solche Dinge besessen.
Mutters Wahnsinn. Vater hatte nie darüber gesprochen. Für Wahnsinn war kein Platz in seiner Welt, für Selbstmord allerdings schon. Mutters geistige Umnachtung war europäisch, eine importierte Schlinge aus Kummer und Wahnvorstellungen … Ihr Vater hatte Mutter umgebracht, hatte Kumiko Sally in Covent Garden erzählt. Aber stimmte das überhaupt? Er hatte Ärzte aus Dänemark, aus Australien und schließlich aus Chiba geholt. Die Ärzte hatten sich die Träume der Prinzessin-Ballerina angehört, ihre Synapsen kartiert und gemessen und ihr Blutproben entnommen. Die Prinzessin-Ballerina hatte sich geweigert, ihre Arzneien zu nehmen und sich ihren heiklen Operationen zu unterziehen. »Die wollen mir mit dem Laser das Hirn zerstückeln«, hatte sie Kumiko zugeflüstert.
Sie hatte auch andere Dinge geflüstert.
Nachts, hatte sie gesagt, stiegen böse Geister wie Rauch aus den Kästen in Vaters Arbeitszimmer auf. »Greise«, sagte sie, »die uns die Luft zum Atmen nehmen. Dein Vater nimmt mir die Luft zum Atmen. Diese Stadt nimmt mir die Luft zum Atmen. Hier ist es niemals richtig still. Hier gibt es keinen richtigen Schlaf.«
Zuletzt schlief sie überhaupt nicht mehr. Sechs Nächte lang saß ihre Mutter stumm und still in ihrem blauen europäischen Zimmer. Am siebten Tag verließ sie die Wohnung allein – eine beachtliche Leistung angesichts des Diensteifers der Sekretäre – und begab sich zum kalten Fluss.
Doch der Schaufensterhintergrund war wie Sallys Brille. Kumiko zog die Karte des Koreaners aus dem Ärmel ihres Pullovers.
In der Margate Road stand ein ausgebrannter Wagen am Straßenrand. Die Räder fehlten. Sie blieb daneben stehen und ließ den Blick über die nichtssagenden Fassaden der Häuser gegenüber schweifen, als sie hinter sich ein Geräusch hörte. Sie drehte sich um und sah im Licht der halb offenen Tür des nächsten Hauses eine verzerrte Fratze unter fettigen Locken.
»Tick!«
»Eigentlich Terrence«, sagte er, als sich seine Gesichtsmuskeln wieder beruhigt hatten.
Tick wohnte im obersten Stock. Die unteren Geschosse standen leer. Auf den abblätternden Tapeten waren die gespenstischen Spuren nicht mehr vorhandener Bilder zu sehen.
Das Hinken des Mannes war ausgeprägter, als er vor ihr die Treppe hinaufstieg. Er trug einen grauen Kammgarnanzug und tabakbraune Wildlederschuhe mit dicken Sohlen.
»Hab dich schon erwartet«, sagte er, während er sich Stufe um Stufe nach oben hievte.
»So?«
»Ich wusste, dass du Swain abgehauen bist. Hab sie abgehört, wenn mir das andere Zeit dazu gelassen hat.«
»Das andere?«
»Du hast keine Ahnung, oder?«
»Wie bitte?«
»Die Matrix. Irgendwas geht da vor. Es ist einfacher, ich zeig’s dir, als dass ich’s zu erklären versuche. Als ob ich’s erklären könnte! Im Moment hängen schätzungsweise gute drei Viertel der Menschheit dran und verfolgen das Schauspiel …«
»Ich verstehe nicht.«
»Versteht wohl keiner. Da ist’ne neue Makroform in dem Sektor, der das Sprawl repräsentiert.«
»Makroform?«
»’n
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