Neuromancer-Trilogie
feststehenden Tatsachen, mache sich gegebene Situationen zunutze.
Aber was, wenn Deane, der echte Deane, Linda im Auftrag von Wintermute hatte töten lassen? Case tastete im Dunkeln nach einer Zigarette und Mollys Feuerzeug. Es gab keinen Grund, Deane zu verdächtigen, sagte er sich beim Anzünden. Keinen Grund.
Wintermute konnte so etwas wie eine Persönlichkeit in eine leere Hülle einsetzen. Wie subtil konnte die Manipulation ausfallen? Case drückte die Yeheyuan nach dem dritten Zug im Aschenbecher neben dem Bett aus, kehrte Molly den Rücken zu und versuchte zu schlafen.
Der Traum, die Erinnerung spulte sich so monoton ab wie ein uneditiertes Simstim-Band. Mit fünfzehn hatte er einen Sommermonat mit einer gewissen Marlene verbracht, im fünften Stock einer Pension. Der Aufzug war schon seit Jahren außer Betrieb. Küchenschaben huschten in der Kochecke mit der zugestöpselten Spüle übers gräuliche Porzellan, wenn man das Licht anknipste. Er schlief mit Marlene auf einer gestreiften Matratze. Bettzeug gab es nicht.
Er bekam nicht mit, wie die erste Wespe am abblätternden Lack des Fensterstocks ihr papierdünnes graues Nest baute. Bald war das Nest faustgroß; die Insekten schwärmten in die Gasse aus und schwirrten wie Miniaturhubschrauber über dem fauligen Inhalt der Mülltonnen.
Eines Nachmittags, sie hatten beide ein Dutzend Bier intus, wurde Marlene von einer Wespe gestochen. »Mach die Viecher tot!«, sagte sie. Ihre Augen waren dumpf vor Zorn, glanzlos in der schwülen Hitze des Zimmers. »Verbrenn sie!«
Betrunken durchwühlte Case den muffigen Schrank nach Rollos Drachen. Rollo war Marlenes Ex – mit dem sie, wie Case damals argwöhnte, immer noch hin und wieder was laufen hatte -, ein bulliger Motorradfan aus Frisco mit einem gefärbten blonden Blitz im dunklen Bürstenschnitt. Der Drache war ein Flammenwerfer aus Frisco, dick und kantig wie eine große Taschenlampe. Case checkte die Batterien, schüttelte das Ding, um zu sehen, ob genug Benzin im Tank war, und ging ans offene Fenster. Im Stock begann es zu summen.
Die Luft im Sprawl war abgestanden, gestaut. Eine Wespe schwirrte aus dem Nest und umkreiste seinen Kopf. Case drückte den Zünder, zählte bis drei und betätigte den Abzug. Das auf sieben at verdichtete Benzin sprühte an der weißglühenden Spule vorbei. Eine helle Stichflamme, fünf Meter lang. Das angekohlte Nest flog davon. Gejohle auf der anderen Straßenseite.
»Scheiße!« Marlene stand schwankend hinter ihm. »Du Idiot! Du hast sie nicht verbrannt. Bloß das Nest abgerissen. Gleich kommen sie wieder hoch und bringen uns um!« Ihre Stimme zerrte an seinen Nerven. Er stellte sich vor, wie sie Feuer fing, wie ihr blondiertes Haar giftgrün aufloderte.
In der Gasse näherte er sich mit dem Drachen in der Hand dem angekohlten Nest. Es war aufgebrochen. Angesengte Wespen krümmten und wanden sich auf dem Asphalt.
Er sah, was die graue Papierhülle verborgen hatte.
Horror. Die spiralförmige Gebärfabrik, die abgestuften Reihen der Brutzellen, die blinden, unablässig mahlenden Kiefer der Ungeborenen, die verschiedenen Stadien vom Ei zur Larve, von der Fast-Wespe zur Wespe. Sein geistiges Auge machte Zeitrafferaufnahmen davon, entschlüsselte das Gebilde als biologisches Gegenstück eines Maschinengewehrs, grausig in seiner Perfektion. Fremdartig. Er drückte den Abzug, wobei er zu zünden vergaß, und Benzin spritzte über das schwellende, zuckende Leben zu seinen Füßen.
Als er den Zünder drückte, explodierte das Ding mit einem dumpfen Schlag. Er versengte sich eine Augenbraue. Fünf Stockwerke über sich hörte er Marlene am geöffneten Fenster lachen …
Er erwachte mit dem Eindruck erlöschenden Lichts, aber im Zimmer war es dunkel. Nachbilder, Augenflimmern. Am Himmel draußen die ersten Spuren des aufgezeichneten Morgengrauens. Jetzt waren keine Stimmen mehr zu hören, nur
das Rauschen des Wassers tief unten am Fuß des Intercontinental.
In seinem Traum hatte er, kurz bevor er das Nest mit Benzin tränkte, das T-A-Logo von Tessier-Ashpool an der Außenhaut gesehen – so sauber, als hätten es die Wespen selbst dort eingearbeitet.
Molly bestand darauf, ihn mit Bräuner einzureiben. Sie behauptete, mit seiner Sprawlblässe würde er zu viel Aufmerksamkeit erregen.
»Du meine Güte«, sagte er, nackt vor dem Spiegel stehend, »und du glaubst, das wirkt echt?«
Molly kniete neben ihm und verteilte den Rest der Tube auf seinem linken Knöchel. »Nee.
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