Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Neuromancer-Trilogie

Titel: Neuromancer-Trilogie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Gibson
Vom Netzwerk:
waren größer, zu dunkel. Riviera und der gliederlose Torso wälzten sich auf dem Bett, und die Hände mit den leuchtenden Nägeln krochen über sie hin. Das Bett war nun mit vergilbter, brüchiger Spitze bedeckt, die tiefe Falten warf und bei der kleinsten Berührung zerfiel. Staubkörnchen tanzten um Riviera und die zuckenden Glieder, die huschenden, kneifenden, streichelnden Hände.
    Case warf Molly einen raschen Blick zu. Ihr Gesicht war ausdruckslos; die Farben von Rivieras Projektion wogten und waberten in ihren Linsen. Armitage saß vornübergebeugt da, die Hände am Stiel seines Weinglases, die hellen Augen starr auf die Bühne, den leuchtenden Raum gerichtet.
    Nun waren Glieder und Torso miteinander verschmolzen, und Riviera durchlief ein Zittern. Der Kopf war dran, das Bild komplett. Es war Mollys Gesicht; ihre Augen lagen unter stillen Quecksilberspiegeln verborgen. Riviera und das Molly-Abbild begannen, mit neu entfachter Heftigkeit zu kopulieren. Dann streckte das Abbild langsam die Hand aus und entblößte seine fünf Klingen. Mit träger, träumerischer Bedachtsamkeit
schlitzte es Rivieras Rücken auf. Case sah noch kurz die freigelegten Wirbel, dann war er auch schon auf den Beinen und taumelte zur Tür.
    Er erbrach sich über ein Rosenholzgeländer in die stillen Wasser des Sees. Das Gefühl, sein Kopf sei in einen Schraubstock gespannt, war nun verschwunden. Kniend und die Wange ans kühle Holz gepresst, blickte er über den seichten See zum hellen Lichthof der Rue Jules Verne.
    Case hatte so etwas schon früher gesehen; als er noch ein Teenager gewesen war, wurde es im Sprawl »Realtraum« genannt. Er erinnerte sich an schmächtige Puerto Ricaner, die unter den Straßenlaternen der East Side zu fetzigen Salsarhythmen realträumten: Traummädchen drehten und schüttelten sich zur Musik, und die Zuschauer klatschten den Takt. Freilich waren dazu ein ganzer Lastwagen voller Geräte und ein unhandlicher Trodenhelm erforderlich gewesen.
    Was Riviera träumte, kam auch so rüber. Case schüttelte den schmerzenden Kopf und spuckte in den See.
    Er konnte sich das Ende, das Finale ausmalen. Es folgte einer gewissen Symmetrie: Riviera fügt das Traummädchen zusammen, das Traummädchen zerlegt ihn. Mit diesen Händen. Traumblut auf der brüchigen Spitze.
    Jubel aus dem Restaurant, Applaus. Case richtete sich auf und strich seine Kleidung glatt. Er drehte sich um und ging ins Vingtième Siècle zurück. Mollys Stuhl war leer. Die Bühne ebenfalls. Armitage saß allein am Tisch, noch immer auf die Bühne starrend, den Stiel des Weinglases zwischen den Fingern.
    »Wo ist sie?«, fragte Case.
    »Weg«, antwortete Armitage.
    »Ihm nach?«
    »Nein.« Ein feines Klirren. Armitage blickte auf sein Glas hinunter und hob die Linke mit dem rotweingefüllten Kelch.
Der abgebrochene Stiel ragte wie ein Eiszapfen zwischen seinen Fingern hervor. Case nahm ihm den Kelch aus der Hand und stellte ihn in ein Wasserglas.
    »Sagen Sie mir, wo sie hin ist, Armitage.«
    Die Beleuchtung ging an. Case blickte in die hellen Augen. Nichts zu sehen. »Sie macht sich bereit. Du wirst sie nicht mehr sehen. Während des Runs seid ihr wieder zusammen.«
    »Warum hat Riviera ihr das angetan?«
    Armitage stand auf und ordnete das Revers seines Jacketts. »Schlaf dich aus, Case!«
    »Geht’s morgen los?«
    Armitage zeigte sein nichtssagendes Lächeln und marschierte zum Ausgang.
    Case rieb sich die Stirn und blickte sich um. Die Gäste erhoben sich; die Damen lächelten über die Scherze der Männer. Erst jetzt bemerkte er den diskret abgedunkelten Balkon, auf dem noch die Kerzen brannten. Er hörte das Klappern von Tafelsilber, gedämpfte Unterhaltung. Die Kerzen warfen tanzende Schatten an die Decke.
    Das Mädchengesicht erschien so unvermittelt wie eine von Rivieras Projektionen. Die schmalen Hände auf dem glänzenden Holzgeländer, beugte sie sich vor. Ihr Gesicht war verzückt, wie es ihm schien, und sie schaute mit dunklen Augen herunter. Ihre Aufmerksamkeit galt der Bühne. Es war ein eindrucksvolles, aber kein schönes Gesicht. Dreieckige Form, hohe Wangenknochen, die erstaunlich fragil wirkten, ein breiter, strenger Mund, der von der schmalen Adlernase mit den geblähten Flügeln auf merkwürdige Weise ausgeglichen wurde. Und dann war sie wieder im vertrauten Gelächter und im Tanz der Kerzen verschwunden.
    Als Case das Restaurant verließ, bemerkte er die zwei jungen Franzosen mit ihrer Freundin, die auf das Boot zum anderen Ufer

Weitere Kostenlose Bücher