Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
meinen Brüdern vergönnt hat.«
Ich glaube, dass Remwar meine Kritik an seiner Ei n stellung heraushörte, denn er runzelte die Stirn und sagte: »Ich wollte doch nur …« Weiter kam er nicht, denn Yaril fiel ihm ins Wort.
»O weh!«, rief sie aus. »Ich habe einen Ohrring verl o ren! Einen von den neuen Lapislazuli-Ohrringen, die P a pa mir eigens für diesen Abend geschenkt hat. Oh je, was wird er von mir denken, wenn ich so sorglos mit seinem Geschenk umgehe? Ich muss den Ohrring sofort suchen gehen!«
»Ich helfe dir«, erbot sich Remwar sogleich. »Wo mag er heruntergefallen sein?«
»Wahrscheinlich auf dem Weg zum Gewächshaus«, sagte Carsina. »Erinnere dich, du bist von dem Pfad he r untergetreten, und dein Haar hat sich kurz in der Klette r rose verfangen, die sich an dem Spalier dort emporrankt. Ich vermute, dort hast du ihn verloren.«
Yaril lächelte sie dankbar an. »Bestimmt hast du Recht. Wir suchen dort nach ihm.«
»Ich komme mit«, bot ich an und schaute Remwar mit einem prüfenden Blick an.
»Sei nicht albern«, maßregelte mich Yaril. »Carsina ist nach draußen gegangen, um sich einen Moment vom Tanzen auszuruhen. Sie will nicht noch einmal zu den Gewächshäusern gehen, und allein können wir sie ja wohl schlecht hier sitzen lassen. Außerdem würdest du mit deinen großen Füßen meinen Ohrring wahrscheinlich in den Boden treten, bevor du ihn sehen würdest. Zwei von uns sind genug, um nach einem kleinen Ohrring zu suchen. Warte hier. Wir werden nicht lange wegbleiben.«
Während sie dies sagte, war sie aufgestanden. Ich wusste, dass ich sie eigentlich nicht allein mit Remwar den im Dunkeln liegenden Pfad hinuntergehen hätte la s sen dürfen, aber Carsina klopfte leise auf die Bank neben ihr, zum Zeichen, dass ich mich zu ihr setzen sollte, und ich konnte sie ja wohl kaum allein im Garten sitzen la s sen. »Bleib nicht so lange weg«, ermahnte ich Yaril.
»Keine Angst, ich bleibe nicht lange«, antwortete sie. »Der Ohrring wird entweder da sein oder nicht.«
Remwar erkühnte sich, ihr den Arm anzubieten, aber sie schüttelte den Kopf, auf eine liebreizende Art ihre Ablehnung signalisierend, und verschwand mit ihm in der Dunkelheit. Ich blickte ihnen nach. Nach einem M o ment fragte Carsina leise: »Möchtest du dich denn nicht setzen? Ich könnte mir denken, dass dir die Füße wehtun nach dem vielen Tanzen. Meine tun jedenfalls weh.« Sie schob ihren zierlichen kleinen Fuß unter dem Saum ihres Kleides hervor, als wolle sie mir zeigen, wie müde er war, und rief erschrocken: »Oh, mein Schuh ist aufg e gangen! Ich werde ins Haus gehen müssen, um ihn zuz u binden, denn wenn ich mich hier bücke, mache ich mir bestimmt den Saum meines Kleides ganz schmutzig!«
»Gestatte mir, dass ich ihn zubinde«, stieß ich atemlos hervor. Ich kniete mich sorglos vor sie, weil das Wetter trocken gewesen war und die Pflastersteine des Garte n weges stets sorgfältig gekehrt wurden.
»Oh, aber das solltest du nicht!«, rief sie, während ich die seidenen Schnürbänder ihres Schuhs aufhob und z u band. »Du wirst dir das Knie deiner schönen neuen Un i formhose dreckig machen. Und du siehst so stattlich in ihr aus!«
»Ein bisschen Staub auf meinem Knie wird sie schon nicht ruinieren«, erwiderte ich. Sie hatte gesagt, ich sähe stattlich aus. »Ich binde meiner Schwester schon die Schuhe, seit sie ein kleines Mädchen war. Ihre Schleifen lösen sich ständig. Nun. Wie ist das? Zu fest? Zu lo c ker?«
Sie beugte sich nach unten, um mein Werk zu begu t achten. Ihr Hals war anmutig und blass wie der eines Schwans, und wieder umhüllte mich der Duft ihrer Ga r denien. Als sie mir ihren Blick zuwandte, waren unsere Gesichter nur wenige Zoll voneinander entfernt. »Wu n derbar«, sagte sie leise.
Ich konnte mich weder rühren noch etwas sagen. »Danke«, sagte sie. Sie lehnte sich vor, und ihre Lippen berührten unendlich sanft ganz kurz meinen Hals, ein Kuss, der, wiewohl so züchtig wie der einer Schwester, mein Herz so heftig klopfen ließ, dass es mir schier in den Ohren dröhnte. Dann lehnte sie sich plötzlich zurück und hielt überrascht ihre Fingerspitzen an die Lippen. »Oh! Ein Bart!«
Ich fasste mir entsetzt an die Wange. »Aber ich habe mich doch rasiert!«, rief ich, worauf sie lachte. In meinen Ohren klang das, wie wenn ein Schwarm Lerchen in den Morgenhimmel emporstieg.
»Natürlich! Ich wollte damit doch nicht sagen, dass deine Wange sich rau anfühlt. Sondern nur, dass da ein
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