Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
leuchteten, und ich konnte ihr nicht widerstehen. Ich küsste sie erneut.
»Carsina!«, zischte streng eine Stimme. Schuldb e wusst fuhren wir auseinander. Yaril fasste ihre Freundin beim Ellenbogen und sah mich schwesterlich tadelnd an. »Nevare, das hätte ich nie und nimmer von dir gedacht! Carsina, du kommst mit mir!« Wie Blütenblätter, die von einem plötzlichen Windstoß davongeweht werden, en t schwanden die beiden Mädchen von uns. An der Biegung lachte eines von ihnen glockenhell, das andere stimmte mit ein, und dann waren sie aus meinem Blickfeld ve r schwunden. Ich starrte ihnen noch einen Moment hinte r her, und dann wandte ich mich Remwar zu, um ihn für sein Tun zu rügen. Meine Augen verengten sich, und ich holte Luft, um zu einer Standpauke auszuholen, aber er lachte bloß spitzbübisch und knuffte mir freundschaftlich die Schulter.
»Beruhig dich, alter Knabe. Mein Vater spricht heute Abend mit deinem.« Dann schaute er mir in die Augen, wie es ein ehrlicher Bursche tun sollte, und sagte: »Ich liebe sie schon seit zwei Jahren. Ich glaube, unsere Mü t ter wissen es beide. Ich verspreche dir, Nevare, ich werde niemals zulassen, dass ihr etwas Böses geschieht.«
Darauf fiel mir keine Antwort ein, und er sagte plöt z lich: »Ich höre, die Musik spielt wieder. Auf zur Attacke, Jungs!« Und schon war er fort und marschierte mit la n gen Schritten den Mädchen hinterher. Ich stand kop f schüttelnd da, benommen von dem Kuss und von dem Duft, den Carsina an mir hatte haften lassen. Ich zog meinen Mantel gerade und wischte ein bisschen Puder von seinem Revers ab. Erst dabei entdeckte ich, dass sie mir ihr winziges Taschentuch zugesteckt hatte. Es war ganz aus Spitze, weiß und zart wie eine Schneeflocke, und es duftete nach Gardenien. Ich faltete es sorgfältig zusammen, schob es in die Tasche und hastete zurück zur Musik und zum Licht. Plötzlich war mir der Gedanke, dass ich am nächsten Morgen abreisen würde, schier u n erträglich. Von der Zeit, die mir noch blieb, würde ich nicht einen einzigen Moment verschwenden.
Doch kaum war ich auf die Tanzfläche zurückgekehrt, da entdeckte mich auch schon meine Mutter und ermah n te mich, die Höflichkeit gebiete es, dass ich auch mit e i nigen ihrer älteren Freundinnen tanzte. Ich sah, wie mein Vater Carsina zum Tanz aufforderte, während meine Schwester Yaril ein Gesicht machte, als bete sie geradezu darum, dass ihre Runde mit Major Tanrine endlich zu Ende gehe. Die Nacht lag vor mir, zugleich endlos und unerträglich kurz. Die Kapelle hatte gerade den letzten Tanz angekündigt, als meine Mutter plötzlich mit Carsina am Arm an meiner Seite auftauchte. Ich wurde rot, als sie die Hand meiner Verlobten in meine legte: Plötzlich war ich mir sicher, dass sie von unserem heimlichen Treffen im Garten und sogar von dem Kuss wusste.
Ich war sprachlos angesichts ihrer strahlenden Schö n heit und angesichts des Blickes, mit dem sie mir in die Augen schaute. Es kam mir so vor, als drehten nicht wir uns im Tanze, sondern als wirbele der Tanz im Kreise um uns herum. Mit einiger Mühe brachte ich schließlich heraus: »Ich habe dein Taschentuch gefunden.«
Carsina lächelte und sagte leise: »Bewahr es gut für mich auf, bis wir uns wiedersehen.«
Und dann endete die Musik, und ich musste mich vor ihr verbeugen und dann ihre Hand freigeben und sie g e hen lassen. Vor mir erstreckten sich endlos die vier Jahre auf der Akademie und drei weitere Dienstjahre, bevor ich sie dann endlich würde holen können. Plötzlich fühlte ich jeden Tag, jede Stunde dieser ungeheuren Spanne. Ich schwor mir, dass ich mich als ihrer würdig erweisen würde.
In jener Nacht tat ich kein Auge zu, und am nächsten Morgen stand ich sehr früh auf. Heute würde ich mein Zuhause, die Stätte meiner Kindheit, hinter mir lassen. Als ich den Blick durch mein kahles Zimmer wandern ließ, wurde mir plötzlich bewusst, dass »zu Hause« von nun an ein Ort sein würde, an dem ich zu Besuch weilen würde, während meiner Ferien von der Akademie, und dass ich erst wieder ein richtiges Zuhause haben würde, wenn Carsina und ich uns ein eigenes geschaffen hatten. Mein schmales Bett und mein leerer Kleiderschrank e r schienen mir auf einmal wie leere Hüllen meines alten Lebens. Eine einsame Holzkiste war das Einzige, was noch im Regal stand. Darin befanden sich meine Steine. Ich hatte angefangen, sie wegzuwerfen, dann aber schnell gemerkt, dass ich das nicht konnte. Yaril hatte mir ve r
Weitere Kostenlose Bücher