Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Garten schlüpften. Es war ein lauer Abend, und wir waren alle erhitzt vom Tanzen. Plötzlich erschien es mir, als könnte ein kurzer Spazie r gang im Garten, fern von der Musik und dem Geplauder der Gäste, eine willkommene Erholungspause von der Feier für mich sein. Sobald es mir möglich war, ohne den Anschein von Unhöflichkeit zu erwecken, entschuldigte ich mich charmant bei Mrs. Grazel, die mir gerade einen ausführlichen Vortrag über die blutreinigenden Eige n schaften von Petersilie hielt, welche sie aus eben diesem Grund den Mahlzeiten ihres jüngeren Sohnes beifüge, und begab mich zügigen Schrittes auf die Terrasse, die den Blick über die Gärten gewährte.
Laternen aus buntem Glas waren entlang den Wegen aufgehängt worden. Die letzten Blumen des Sommers erfreuten sich noch ihrer Blüte, und der Abend war für diese Jahreszeit ungewöhnlich mild. Ich sah meinen Br u der Rosse mit seiner Verlobten auf einer Bank unter einer Trauerweide sitzen. Er bewegte sich durchaus im Ra h men der Schicklichkeit, indem er sich dieses bisschen Abgeschiedenheit mit ihr stibitzte, denn ihr Verlöbnis war schon vor Monaten offiziell angekündigt worden. Ich würde voraussichtlich im Frühling von der Akademie anreisen, um an ihrer Hochzeit teilzunehmen. Roger Holdthrow schlenderte allein durch den Garten, vermu t lich auf der Suche nach Sara Mallor. Ihre Verlobung war noch nicht offiziell verkündet worden, aber da die Anw e sen ihrer Eltern aneinander grenzten, stand seit ihrer Kindheit fest, dass sie irgendwann heiraten würden.
Schließlich entdeckte ich Yaril und Carsina. Sie saßen auf einer Bank am Teich. Sie kühlten sich das Gesicht mit einem Fächer und unterhielten sich leise. Liebend gern hätte ich mich ihnen genähert, doch fehlte mir dazu der Mut. Da sah ich auf einmal Kase Remwar aus dem Schatten hervortreten. Er verbeugte sich elegant vor den beiden Mädchen, und ich vernahm, wie er ihnen »einen guten Abend« wünschte. Meine Schwester setzte sich kerzengerade auf und erwiderte seinen Gruß mit irgen d einer Artigkeit, die ihn zum Lachen brachte. Carsina fiel mit in sein Lachen ein. Es war nicht völlig korrekt, dass Remwar allein mit den beiden jungen Frauen war, und unter dem Vorwand, ein rechtmäßiges Interesse am Wohlergehen meiner Schwester geltend machen zu dü r fen, nahm ich meinen Mut zusammen, gab mir einen Ruck und stieg die Treppe hinunter, um mich zu ihnen zu gesellen.
Remwar begrüßte mich leutselig und wünschte mir freundlich alles Gute für meine Reise am nächsten Mo r gen und für mein Studium an der Akademie. Er war der Erstgeborene seiner Familie und Erbe des Titels seines Vaters, weshalb ich es ein bisschen herablassend von ihm fand, als er sagte, er würde viel lieber von zu Hause weggehen, so wie ich, und tolle Abenteuer in der großen weiten Welt erleben, als daheim zu bleiben und die Bü r de seines Ranges tragen zu müssen.
»Der gütige Gott hält für jeden den ihn angemessenen Platz bereit«, erwiderte ich. »Ich würde mir weder das Erbe meines älteren Bruders wünschen noch das Prieste r leben meines jüngeren. Ich glaube, ich möchte gern das werden, was mir bestimmt worden ist.«
»Oh, an der Regel der Geburtsreihenfolge will ich n a türlich nicht rütteln«, beeilte sich Remwar richtig zu ste l len. »Die steht fest und unverrückbar. Aber warum kann ein Mann nicht mehr als eine Berufung haben? Denk mal darüber nach. Dein Vater war einst Soldat, und jetzt ist er ein Herr. Warum kann ein Erbe nicht zugleich auch Dic h ter oder Musiker sein? Die Soldatensöhne von Edlen führen doch auch Tagebuch und haben ein Skizzenbuch in ihrem Marschgepäck, nicht wahr? Bist du nicht also auch ebenso Schriftsteller und Naturforscher wie So l dat?«
Seine Worte öffneten ein Fenster in meiner Zukunft, eines, von dem ich bisher noch gar nichts gewusst hatte. Schon immer hatte ich mehr ü ber Steine und Mineralien erfahren wollen, aber ich hatte das immer als einen u n würdigen Gedanken empfunden, der vom großen Verwi r rer geschickt worden war. Konnte ein Mann beides sein, ohne gegen die Gesetze des gütigen Gottes zu verstoßen? Ich stieß den Gedanken von mir fort, weil ich schon jetzt tief in meinem Herzen die richtige Antwort wusste. »Ich bin Soldat«, sagte ich mit fester Stimme. »Ich beobachte und schreibe nur das auf, was für die Soldaten, die nach mir kommen, hilfreich und von Nutzen ist. Ich spüre kein Verlangen nach den Bestimmungen, die der gütige Gott
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