Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
ein Geschäftsviertel, das bis auf einige wenige Wachleute still und menschenleer war. Schließlich verließen wir den Häuserwirrwarr der Stadt und fuhren bergauf in die sanften Hügel zu einer Enklave aus Herrenhäusern und Rittergütern. Als wir am Hause meines Onkels ankamen, war es dunkel bis auf eine gelbe Laterne an der Hauptpforte und eine erleuchtete Fenste r reihe oberhalb von uns. Alsbald erschienen Dienstboten, darunter auch ein Stallknecht, der sich um unsere Pferde kümmerte. Der Leibdiener meines Onkels begrüßte me i nen Vater und erklärte ihm, dass seine Herrin längst im Bett sei, mein Onkel jedoch über unsere bevorstehende Ankunft in Kenntnis sei und uns in seinem Arbeitszi m mer erwarte. Wir folgten ihm ins Haus und die mit di c ken Teppichen belegte Treppe hinauf, während sich hi n ter uns Dienstboten mit unseren schweren Schrankko f fern abmühten.
An der Doppeltür des Arbeitszimmers meines Onkels angekommen, klopfte der Diener leise an, öffnete uns die Tür, und wir betraten das warm erleuchtete Zimmer. Dort wurden alle Zweifel, die ich bezüglich der Gastfreun d lichkeit meines Onkels uns gegenüber gehabt hatte, sogleich zerstreut. Zu unserer Begrüßung waren nicht nur Wein, diverse Sorten kaltes Fleisch, Käse und Brot au f getischt worden, sondern auch Tabak für meinen Vater. Mein Onkel, der eine vornehme Rauchjacke und eine Hose aus Seide trug, erhob sich und schritt meinem Vater entgegen, um ihn mit einer Umarmung willkommen zu heißen. Dann trat er einen Schritt zurück, die Pfeife in der Hand, und mimte Überraschung darüber, wie groß ich geworden sei. Er bestand darauf, dass wir uns s ofort zu dem späten Imbiss niederließen, den er für uns vorb e reitet hatte, eine Aufforderung, der ich nur zu gern folgte.
Die Konversation meines Vaters und meines Onkels schwirrte über meinen Kopf hinweg, während ich zulan g te. Ich war froh, mich nicht daran beteiligen zu müssen, denn so konnte ich mich ungestört dem Verzehr des b e sten Essens widmen, das ich seit Tagen zu Gesicht b e kommen hatte, und außerdem meinen Vater und meinen Onkel so sehen, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte. Während der nächsten Stunde sah ich, was mir immer entgangen war, dass die beiden Brüder sich nämlich sehr nahe standen, und dass mein Onkel Sefert sich nicht nur über die Erhebung meines Vaters in den Adelsstand fre u te, sondern seinem jüngeren Bruder aufrichtige Zune i gung entgegenbrachte. Bei den letzten Malen, da ich die beiden zusammen gesehen hatte, war ich noch ein Kind gewesen, und bei diesen Gelegenheiten hatten sie sich in ihrem Verhalten um eine Zurückhaltung bemüht, die i h rem Stand entsprach. Vielleicht lag es an der späten Stunde oder an dem zwanglosen Rahmen, aber an diesem Abend unterhielten sie sich lebhaft, lachten herzlich und benahmen sich überhaupt eher wie zwei Jungen denn wie zwei Edelleute des Königreiches.
Als wollten sie verlorene Zeit wettmachen, schnitten sie gleich ein ganzes Dutzend Themen an, von der G e sundheit der Feldfrüchte meines Vaters und den Erzeu g nissen des Weinbergs meines Onkels bis hin zu den Vermählungsplänen meines Onkels für seine Tochter und die Auswahl meines Vaters an aussichtsreichen Kandid a ten für die Hand Yarils. Mein Vater sprach über die Gä r ten meiner Mutter und sagte, er habe vor, den Blume n markt zu besuchen und neue Dahlienknollen mit nach Hause nehmen, um die zu ersetzen, die im Frühsommer von Nagetieren gefressen worden waren. Er erzählte d a von, wie viel Freude meine Mutter an ihren Gärten und ihrem Heim habe und dass seine Töchter viel zu schnell flügge würden und bald seinen schützenden Fittichen entfliehen würden. Mein Onkel wiederum erzählte mit schonungsloser Ehrlichkeit von der Unzufriedenheit und dem Ehrgeiz seiner Gemahlin und gestand offen ein, dass ihr die Erhebung meines Vaters in den Adelsstand mis s fiel, als hätte sein Aufstieg irgendwie die Position meines Onkels kompromittiert. »Daraleen war immer sehr auf ihre Stellung bedacht. In ihrer Familie war sie eine der jüngeren Töchter, und sie hätte nie gedacht, dass sie je mit einem erstgeborenen Sohn vermählt werden w ürde. Es ist beinahe so, als fürchte sie, einen Teil ihrer Ehre einzubüßen, wenn andere aufsteigen und sie ihren Stand mit ihnen teilen muss. Ich habe versucht, sie zu beruh i gen, doch leider scheint ihre Mutter die Ängste ihrer Tochter zu teilen. Ihre Familie führt sich auf, als stam m ten die neuen
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