Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
dass Stiets Familie und Freunde ihn dazu drängen könnten, dieses Verhältnis wieder ins Lot zu bringen.«
»Ich weiß es nicht. Ich denke, es wird Druck ausgeübt werden. Ich kenne Stiet nicht gut genug, um beurteilen zu können, ob er diesem Druck nachgeben wird. Er ist neu auf seinem Posten. Er hat versprochen, an alle K a detten hohe Anforderungen zu stellen. Er wird diesen Anforderungen womöglich besser mit den Soldatensö h nen von Kriegsherren entsprechen können als mit denen der alten Garde.«
Mein Vater warf mir einen Seitenblick zu und nickte. »Nevare braucht eine solche Musterung gewiss nicht zu fürchten.«
Es erfüllte mich mit Stolz, dass mein Vater solch gr o ße Stücke auf mich hielt, und ich versuchte, der Angst keine Gelegenheit zu geben, sich in mir festzusetzen. Sie standen vom Tisch auf und begaben sich zu den bequ e men Sesseln am Kamin. Es war noch früh im Jahr für ein Feuer, aber nach unserer langen Reise und der Kutsc h fahrt durch den feuchtkalten Abend empfand ich die Wärme als wohltuend. Ich fühlte mich geehrt, bei ihnen sitzen zu dürfen, während sie rauchten und redeten, und ich versuchte, ihrem Gespräch zu folgen, auch wenn ich wusste, dass es mir nicht zustand, mich daran zu beteil i gen. Mehrere Male richtete mein Onkel das Wort direkt an mich, um mich in das Gespräch einzubeziehen. Von der Erörterung von Familienangelegenheiten gingen s ie über zu einer allgemeinen Diskussion des politischen Klimas. Landsang hatte sich in letzter Zeit ruhig verha l ten, es verhandelte sogar über ein Handelsabkommen und gewährte unserem König freien Zugang nach Defford, einem seiner besten Seehäfen. Onkel Sefert hatte das G e fühl, dass Landsang unsere Ausdehnung nach Osten u n terstützte, weil sie unser Militär band und die begehrl i chen Blicke unseres Königs von Landsang ablenkte. Mein Vater fand nicht, dass König Troven übertrieben habgierig war, sondern nur, dass er den Nutzen sah, den es mit sich brachte, weitläufige Gebiete rings um unsere bewohnten Gebiete zu kontrollieren. Außerdem wussten alle, dass er den Flachländern die Zivilisation, den Ha n del und andere nützliche Dinge gebracht hatte. Und sogar die Fleck, ob sie wollten oder nicht, würden am Ende dank unserer Einverleibung der Wildlande besser dast e hen. Sie machten keinen Gebrauch von den Wäldern, bebauten kein Land und gewannen kein Holz. Wenn sie erst vom gernischen Beispiel lernten, wie man diese Re s sourcen klug nutzte, würden auch sie profitieren.
Mein Onkel konterte mit einem dieser Gedanken vom »edlen Wilden«, die neuerdings so beliebt waren, mehr, wie mir schien, um meinen Vater zu ärgern, als weil er selbst an diesen Unfug geglaubt hätte. Ich hatte den Ei n druck, dass er überrascht war, als mein Vater eine gewi s se Zuneigung zu Naturvölkern wie den Flachländern und sogar den Fleck bekundete, aber gleichzeitig deutlich machte, dass sie, wenn die Zivilisation sie nicht erfasse und emporhebe, wahrscheinlich unter ihrem fortdauer n den Marsch nach Osten zertrampelt werden würden. Mein Vater war der Ansicht, dass es besser war, wenn wir sie änderten, und dies lieber früher als später, damit sie die Chance hatten, uns nachzueifern, statt in Unwi s sen den Lastern der Zivilisation zum Opfer zu fallen, für die Naturvölker so anfällig waren.
Es war spät, und trotz meines Interesses an dem G e spräch musste ich mit meinen schweren Lidern kämpfen, bevor mein Vater und mein Onkel ihre Diskussion bee n det hatten. Mein Onkel rief nicht seinen Diener, sondern führte uns selbst mit einem Kerzenleuchter in der Hand hinauf zu unseren nebeneinander liegenden Zimmern, wo er uns eine gute Nacht wünschte. Unsere Koffer waren bereits dort, und mein Nachthemd lag ausgebreitet auf meinem aufgeschlagenen Bett. Ich war froh, mich en d lich ausziehen zu können. Rasch hängte ich meine S a chen über einen Stuhl, zog mein Nachthemd an und ve r kroch mich in das weiche, n ach süßen Waschkräutern duftende Bett, voller Vorfreude auf einen langen, e r quickenden Schlaf.
Gerade beugte ich mich hinüber, um meine Kerze au s zublasen, als es leise an der Tür klopfte. Ehe ich irge n detwas sagen konnte, ging die Tür auch schon auf. Ich hätte vielleicht einen Diener erwartet, aber gewiss kein Mädchen in Nachtgewand und Schlafmütze, das durch den Türspalt zu mir hereinlugte. »Bist du noch wach?«, flüsterte es.
»Allem Anschein nach!«, erwiderte ich verlegen.
Ein Lächeln machte sich auf
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