Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
ihrem Gesicht breit. »Ach, gut! Sie haben dich so lange wach gehalten – ich dachte schon, du würdest überhaupt nicht mehr ins Bett gehen!« Mit diesen Worten huschte sie in mein Zimmer, zog die Tür hinter sich zu und setzte sich an das Fußende meines Bettes. Sie zog die Beine hoch, verschränkte sie unter sich und fragte: »Hast du mir etwas mitgebracht?«
»Hätte ich das sollen?« Ich war vollkommen verblüfft über ihr seltsames Betragen und fragte mich besorgt, mit welcher Überraschung ich als Nächstes zu rechnen hatte. Ich hatte Geschichten darüber gehört, wie keck Diens t mägde in großen Städten manchmal waren, aber ich hätte nie im Leben damit gerechnet, solch freches Benehmen im Hause meines Onkels anzutreffen. Für eine Diens t magd sah sie sehr jung aus, aber in ihrem Nachthemd und mit dem unter der Mütze gerafften Haar war ihr A l ter schwer zu schätzen. Ich war den Anblick von Frauen in solcher Kleidung nicht gewohnt.
Sie gab einen leisen Seufzer der Enttäuschung von sich und schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht. Tante Selethe schickt uns von Zeit zu Zeit kleine G e schenke, deshalb hatte ich gehofft, dass du vielleicht eins mitbringen würdest. Aber wenn nicht, bin ich auch nicht beleidigt.«
»Oh. Dann bist du also Epiny Burvelle, meine Base?« Plötzlich war diese mitternächtliche Begegnung noch merkwürdiger geworden.
Sie schaute mich einen Moment verdutzt an. »Na, wer hätte ich denn sonst sein sollen?«
»Ich versichere dir, ich hatte keine Ahnung!«
Sie schaute mich noch einen Moment länger an, i m mer noch verblüfft, und dann formte ihr Mund ein e m pörtes O. »Dann dachtest du wohl, ich sei eine lüsterne Magd, die gekommen ist, um dir das Bett zu wärmen, und ihr Geschenk schon im voraus verlangt. Ach, Nev a re, wie v erderbt junge Männer aus dem Osten doch sein müssen, um so etwas zu erwarten.«
»Das hab ich nicht gedacht!«, leugnete ich hitzig.
Sie lehnte sich zurück. »Ach komm, lüg nicht. Hast du wohl. Aber vergiss das. Jetzt, wo du weißt, dass ich deine Base Epiny bin, beantworte mir meine erste Frage. Hast du mir ein Geschenk mitgebracht?« Sie war neugierig und taktlos wie ein Kind.
»Nein. Nun ja, nicht direkt. Meine Mutter hat uns G e schenke für dich und deine Mutter und deine Schwester mitgegeben. Aber die habe nicht ich, die hat mein V a ter.«
»Oh!« Sie seufzte erneut. »Dann werde ich wohl bis morgen früh warten müssen, bis ich es kriege. Komm, erzähl mir. Hattest du eine gute Reise?«
»Sie war gut, aber anstrengend.« Ich versuchte, es nicht zu spitz klingen zu lassen. Ich war sehr müde, und dieses bizarre Widersehen mit meiner Base strapazierte meine Höflichkeit. Sie merkte es nicht.
»Bist du auf einem dieser großen Fahrgastschiffe g e fahren?«
»Ja.«
»Oh!« Fast wäre sie vor Neid geplatzt. »Auf so einem Schiff bin ich noch nie gefahren. Mein Vater sagt, sie seien frivol und stellten eine Gefahr für die Schifffahrt auf dem Fluss dar. Erst letzte Woche ist eines mit einem Lastkahn zusammengestoßen, der mit Kohle beladen war. Sechs Menschen sind dabei ums Leben gekommen, und die ganze Kohle ist in den Fluss gefallen. Mein Vater sagt, sie sollten verboten werden, und ihre rücksichtsl o sen Kapitäne sollte man in Eisen legen.«
»Tatsächlich.« Ich versuchte, meine Stimme so desinte r essiert wie möglich klingen zu lassen. Ich fand, dass ihre Bemerkung eine kaum verhohlene Kritik an meinem V a ter und mir war, weil wir mit dem Fahrgastschiff g e kommen waren. »Ich bin wirklich sehr müde, Base Ep i ny.«
»Wirklich? Dann sollte ich dich jetzt wohl schlafen lassen. Du enttäuschst mich, Vetter Nevare. Ich dachte, ein Junge hätte viel mehr Ausdauer, als du sie zu haben scheinst. Und ich dachte immer, die Leute aus dem Osten hätten Interessantes zu erzählen.« Sie kletterte von me i nem Bett.
»Das habe ich vielleicht auch, wenn ich nicht ganz so müde bin«, versetzte ich scharf.
»Das bezweifle ich«, sagte sie treuherzig. »Du siehst sehr normal aus.
Und du klingst genauso langweilig wie mein Bruder Hotorn. Er ist sehr auf seine Würde bedacht, und ich glaube, das hindert ihn daran, ein interessantes Leben zu führen. Wenn ich ein Junge wäre und ein interessantes Leben führen dürfte, hätte ich überhaupt keine Würde.«
»Du scheinst auch als Mädchen nicht im Übermaß damit belastet zu sein«, führte ich aus.
»Tja, ich habe sie eben als unnütz abgetan, denn schließlich bin ich ein Mädchen.
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