Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Respekt fehlen lassen, nur weil er nicht dem Militär angehörte, dann würde er uns bald e i nes Besseren belehren. Ich verstand, wie er das meinte, als er uns anwies, die letzten freien Plätze ganz hinten im Klassenzimmer einzunehmen. Nur Trist schien sich vol l kommen wohl zu fühlen. Er saß zwei Stühle von mir en t fernt, und sein Stift glitt leicht und mühelos über das P a pier, während er sich Notizen machte. Bevor der Lehrer uns entließ, gab er uns auf, die Einleitung von Gilshaws Tagebuch eines varnischen Truppenführers ins Gern i sche zu übersetzen und unseren Eltern einen Brief auf Varnisch zu schreiben, in dem wir ihnen mitteilten, wie sehr uns unser erster Tag an der Akademie gefallen habe. Weil wir zu spät gekommen waren, gab er uns zusätzlich eine Strafarbeit auf: Wir sollten eine förmliche Entschu l digung dafür schreiben, dass wir durch unsere Versp ä tung den Unterricht gestört hatten. Irgendwer in den hi n teren Reihen stöhnte, und Herr Arnis gestattete sich ein Schmunzeln – das erste Mal, dass einer von unseren Le h rern einen Hauch von Humor an den Tag gelegt hatte.
Da wir zu spät gekommen waren, behielt er uns länger da, was bedeutete, dass jeder Gedanke an einen gemütl i chen Spaziergang zurück nach Haus Carneston oder an ein gemütliches Mittagessen jäh zunichte gemacht wu r de. Unteroffizier Dent wartete schon auf uns, sehr verä r gert darüber, dass auch er zu spät zum Essen kommen würde. Er wollte uns nicht rennen lassen, sondern ließ uns antreten und zurück zu unserem Quartier marschi e ren. Bevor er uns mit dem Befehl entließ, unsere Bücher nach oben zu bringen, informierte er uns mit sadist i schem Hohnlächeln, dass wir allesamt bei der ersten St u beninspektion durchgefallen seien. Eine Liste sei in der Stube für uns hinterlegt worden, und wir sollten erst alle Mängel beseitigen, bevor wir zum Speisesaal gingen. Ab sofort, kündigte er schadenfroh an, werde unsere Stube jeden Morgen vor dem Gang zum Frühstück inspiziert.
Ich erschrak über die Länge der Liste. Unsere Stube war nicht feucht durchgewischt worden, unser Fenster war schmutzig, und auf der Fensterbank lag Staub. Uns e re Kleider durften nur vollständig zugeknöpft in den Spind gehängt werden, und die Knöpfe hatten nach links zu weisen. Dies erklärte wohl auch, warum unsere Spi n de ausgeräumt waren und ihr Inhalt in einem Haufen auf dem Fußboden lag. Natreds Bettzeug hatte jemand auf den Fußboden neben seine Koje geschmissen; offenbar hatte er es beim Bettenbauen nicht so strammgezogen wie vorgeschrieben. Unsere Lampe hätte frisch mit Öl befüllt, ihr Zylinder saubergemacht und ihr Docht g e stutzt werden müssen. Die Liste schrieb sogar die Re i henfolge vor, in der unsere Bücher im Regal zu stehen hatten.
Wir beeilten uns, die Liste abzuarbeiten. Einige der Pflichten teilten wir uns. Ich wischte feucht durch, Nate wischte Staub, Kort putzte das Fenster, und Spink nahm sich der Öllampe an. Als unsere Bücher in der vorg e schriebenen Reihenfolge ordentlich aneinandergereiht im Regal standen, gingen wir als Gruppe hinaus und trafen uns dort mit den anderen, die ebenfalls aus ihren Zi m mern kamen und sich lauthals beklagten. Trists Stube war für den Gemeinschaftsraum verantwortlich. Sie ha t ten nicht nur fegen, Staub wischen und den Boden feucht aufziehen müssen, sondern auch die Feuerholzvorräte auffüllen und überdies die Stühle in exakt gleichen A b ständen um die Arbeitstische herum gruppieren müssen. Trent musste zwei Gänge hinunter zu seinen Koffern im Abstellraum unternehmen, um die überzähligen Kleider hinunterzuschaffen, die er unter seiner Koje zu verste c ken versucht hatte. Wir stürmten die Treppe hinunter wie ein hungriges Wolfsrudel, doch wir waren noch nicht ganz draußen, da brüllte uns Unteroffizier Dent auch schon an, wir sollten gefälligst »unseren Hintern bew e gen«, er habe keine Lust, auf Dummköpfe warten zu müssen.
Wir waren nicht ganz die letzte Gruppe, die den Spe i sesaal betrat. Die Gruppe von Söhnen neuer Edelleute aus Haus Skeltzin sah genauso mitgenommen aus, wie wir uns fühlten, als sie hinter uns einmarschierte. Wä h rend wir uns um unseren Tisch herum aufstellten, mahnte Unteroffizier Dent erneut vorbildliche Tischmanieren an. Ich glaube nicht, dass einer von uns noch wirklich hi n hörte. Unser Augenmerk galt ausschließlich den dicken Scheiben Schweinebraten, der großen Schüssel Rübe n mus und den knusprigen
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