Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Carneston insofern ähnelte, als es ebenfalls einst ein Lagerhaus gewesen zu sein schien. Aus uneinheitlichen Steinen erbaut, duckte es sich an das Flussufer. Mehrere Kais, an denen kleine Boote vertäut lagen, ragten keck in die träge Strömung des Flusses. Wir wurden zur Uferseite des Gebäudes und zu einem Klassenzimmer im zweiten Stockwerk dirigiert. Ein muffiger Geruch begrüßte uns, als wir das feuchtka l te Gebäude betraten. Wir stiefelten die Treppe hinauf, doch nur, um, oben angekommen, festzustellen, dass wir zu spät dran waren.
»Kommen Sie rein, setzen Sie sich und halten Sie den Mund!«, begrüßte uns Hauptmann Rusk, ein rundlicher Glatzkopf, der mir knapp bis zur Schulter reichte. Bevor wir Nachzügler überhaupt Platz genommen hatten, hatte er uns auch schon wieder den Rücken zugekehrt und kritzelte weiter Zahlen an die Tafel. »Arbeiten Sie es durch, heben Sie die Hand, wenn Sie glauben, eine L ö sung gefunden zu haben. Die ersten fünf mit einer L ö sung können nach vorn an die Tafel kommen und zeigen, wie sie das bewerkstelligt haben.«
Unsere Gruppe suchte sich hastig ein paar freie Stühle, und ich schrieb rasch die Gleichungen ab, die er an die Tafel geschrieben hatte. Es schien mir eine ziemlich ei n fache Aufgabe zu sein, auch wenn ich sah, dass sich Spinks Miene verfinsterte. Ich hatte die Aufgabe schnell gelöst, kritzelte aber weiter mit meinem Bleistift auf dem Papier herum, weil ich keine Lust hatte, an die Tafel g e rufen zu werden. Gord war der dritte Kadett, der die Hand hob. Hauptmann Rusk rief ihn zusammen mit vier anderen nach vorn. Während sie ihre Beweise an der T a fel darlegten und ihre Lösungen präsentierten, schrieb der Hauptmann eine Seitennummer an die Tafel und verkü n dete: »Alle, die nicht die Hand gehoben haben, müssen bis morgen zur Strafe die folgenden Aufgaben machen. Diese Übung hat den Zweck, Ihre Rechenkünste zu schärfen. So, und nun wollen wir mal sehen, wie sich Ihre Mitschüler an der Tafel geschlagen haben.«
Ich saß auf meinem Platz, einen kalten Felsbrocken der Enttäuschung im Bauch, und dachte darüber nach, wie meine Feigheit sich postwendend gegen mich g e kehrt hatte. Vier von den fünf Kadetten an der Tafel ha t ten die richtige Lösung. Kort war einer von ihnen. Den Burschen, der e inen simplen Additionsfehler im letzten Schritt machte, kannte ich nicht. Gords Beweis war der beste, einfach und elegant, mit fester, gestochener Han d schrift geschrieben und mit einem Lösungsweg, der zwei Rechenschritte überflüssig machte. Hauptmann Rusk arbeitete sich durch die Aufgaben, legte mit Hilfe seines Zeigestocks die einzelnen Schritte zur korrekten Lösung dar, kanzelte den einen Burschen für seinen überflüssigen Fehler ab und einen anderen für seine krakelige Schrift und seine schiefen Zahlenkolonnen. Als er zu Gords Aufgabe kam, hielt er inne. Dann tippte er mit der Spitze seines Zeigestocks einmal auf die Tafel und sagte: »Au s gezeichnet.« Das war alles. Er ging sofort weiter zum nächsten Kadetten, und Gord ging strahlend zurück auf seinen Platz.
Ich sah, dass Spinks Hände sich um die Tischkante gekrallt hatten, und spähte zu ihm hinüber. Er war blass. Ich betrachtete sein Blatt, auf dem er versucht hatte, die erste Aufgabe zu lösen. Seine kleinen sauberen Ziffern füllten die Hälfte des Blattes, hatten ihn aber der Lösung nicht einen Schritt näher gebracht. Seine Hände legten sich plötzlich flach über das Blatt, und als ich zu ihm hochschaute, sah ich, dass sein Gesicht ganz rot gewo r den war. Ich blickte ihm nicht in die Augen; das hätte ihn nur noch verlegener gemacht. Ich entschied, dass es be s ser war, wenn ich so tat, als merkte ich nicht, dass er ke i ne Ahnung von Mathematik hatte, sofern sie über die vier Grundrechenarten hinausging.
Hauptmann Rusk wischte die Tafel sauber und schrieb sofort eine neue Aufgabe an. Er hielt inne, tippte mit se i nem Kreidestück auf die Tafel und sagte: »Natürlich ist das für die meisten von Ihnen eine bloße Wiederholung von Stoff, den Sie längst kennen. Aber ich weiß, dass man einen Turm nicht auf einem losen Fundament bauen kann, deshalb prüfe ich lieber erst die Festigkeit Ihres Fundaments, bevor wir beginnen, Ihr Wissen zu erwe i tern.« Neben mir gab Spink einen leisen Laut der Bestü r zung von sich. Es kostete mich große Willenskraft, mich nicht zu ihm umzudrehen. Hauptmann Rusk löste die Aufgabe an der Tafel Schritt für Schritt für uns. Er schrieb
Weitere Kostenlose Bücher