Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
jene Aussonderung den Zweck gehabt haben sollte, ein Feuer in meinem Magen zu entfachen, dann hatte sie diesen Zweck erfüllt. Zielstrebig und hochko n zentriert widmete ich mich meiner Ausbildung. Das Heimweh schlug ich mir aus dem Kopf. Ich begrub sogar meine Entrüstung darüber, wie die Söhne von altem Adel im Vergleich zu uns behandelt wurden. Bald erfuhren wir, dass von ihnen noch keiner in Unehren entlassen und nach Hause geschickt worden war. Mit noch fadensche i nigeren Gründen als bei uns waren vier Erstjährler aus Haus Skeltzin ausgesondert worden. Die Erstjährler aus Haus Bringham hatten Strafrunden aufgebrummt b e kommen, ebenso eine Anzahl der Zweitjährler. Unser Unteroffizier Dent hatte einen Monat lang dunkle Ringe unter den Augen, weil er jeden Tag eine Stunde früher aus den Federn musste, um seine Strafe abzubüßen. Aber das war auch schon das Schlimmste, das einen von ihnen traf. Und alsbald glaubte auch ich, was Rory eines Abends mit vollem Ernst behauptete: »Diese Aussond e rung, das war ein abgekartetes Spiel – die haben uns ganz bewusst in die Falle gelockt. Wir waren Dummköpfe, Freunde. Dummköpfe.«
Das Seltsame war, dass ich, sobald die Erinnerung an die Aussonderung in unseren Köpfen verblasste, wah r haftig begann, Spaß an meinem Leben an der Akademie zu finden. Es war anstrengend und dabei doch u nkompl i ziert. Mein Tag war von der ersten bis zur letzten Minute vorherbestimmt: Ich stand auf, wenn das Signal mich weckte, marschierte in meine Klasse, machte meine A r beit, aß, was auf den Tisch kam, und schlief, wenn die Lampen gelöscht wurden. Wie mein Vater es vorausg e sagt hatte, vertieften sich meine Freundschaften. Noch immer fühlte ich mich zwischen Spink und Trist hin und her gerissen. Ich mochte sie beide, Spink wegen seiner Sittlichkeit und Ernsthaftigkeit, und Trist wegen seiner Eleganz und Weltgewandtheit. Eigentlich hätte ich mit beiden befreundet sein können, befreundet sein wollen, doch schien keiner von beiden geneigt, das zuzulassen.
Ich glaube, die Unterschiede zwischen den beiden zeigten sich am deutlichsten an der Art, wie sie Klein-Caulder (wie wir ihn inzwischen alle nannten) behande l ten, denn der Sohn des Akademiekommandanten wurde ein Teil unseres Lebens. Ich erinnere mich noch gut da r an, wie der Junge zum ersten Mal in unserem Gemei n schaftsraum auftauchte, ungebeten und unangekündigt. Das war am Ende unseres zweiten Monats an der Ak a demie, und an jenem Siebttagabend hatte unser Aufseher unseren Gemeinschaftsraum schon früh verlassen, um einen schönen Abend in der Stadt zu verbringen. Es war das erste Mal, dass wir einen ganzen Abend unbeaufsic h tigt blieben – eine willkommene Pause von der täglichen Tretmühle. Wir waren scheinbar voll und ganz in unsere Lektionen vertieft, um für den Unterricht am nächsten Morgen gerüstet zu sein. Ganz sicher war Spink es, wä h rend er sich mit dem treuen Gord an seiner Seite durch seine Mathematikaufgaben ackerte, denn das war nach wie vor sein Problemfach. Ich war mit meinen schriftl i chen Hausaufgaben fertig und hatte mein Varnischbuch aufgeschlagen vor mir liegen, um die unregelmäßigen Verbformen zu büffeln. Ganz im Sinne meines Vaters war ich in den meisten Fächern Klassenbester, und ich war fest entschlossen, diese Position zu verteidigen.
Die anderen Bewohner unseres Flurs saßen an den T i schen oder hatten es sich auf dem Boden vor dem leeren Kamin bequem gemacht; ihre Bücher und Hefte lagen auf dem Teppich oder auf den Arbeitstischen ausgebre i tet. Das leise Stimmengemurmel oberflächlicher Konve r sation erfüllte das Zimmer. Der Spaß am Blödsinn war uns unter dem Eindruck der langen Tage des Paukens und Exerzierens, die wir über uns hatten ergehen lassen müssen, längst vergangen.
Rory, der einen schier unerschöpflichen Vorrat an z o tigen Geschichten u nd versauten Witzen auf Lager zu haben schien, lungerte lässig am Tisch und gab eine la n ge Geschichte von einer Hure zum besten, die ein Gla s auge hatte. Caleb saß mit seinem neuesten Groschenr o man in seiner Ecke und las Nate und Oron laut von e i nem Axtmörder vor, der leichten Mädchen nachstellte, als plötzlich eine junge und äußerst ungehalten klingende Stimme laut rief: »Ich dachte, Sie sitzen hier und lernen. Wo ist Ihr Aufsicht führender Unteroffizier?«
Rory hielt mitten in seiner Geschichte inne, den Mund vor Staunen weit offen, und wir alle wandten unsere Aufmerksamkeit dem jungen Burschen zu,
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