Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
der da im Türrahmen stand und uns mit einem Ausdruck höchster Missbilligung musterte. Wäre da nicht diese kindliche Stimme gewesen, hätte ich seine Äußerung glatt für den Anschiss eines Offiziers gehalten, so selbstsicher klang seine Stimme. Es folgte ein Moment des Schweigens, in dem wir einander anschauten. Wenn irgendjemand and e res in diesem Augenblick im Zimmer gewesen wäre, hä t te er es wahrscheinlich als komisch empfunden zu sehen, wie ein ganzer Raum voller kraftstrotzender junger Mä n ner aufgrund eines Rüffels von einem kleinen Jungen schlagartig verstummte. Aber ich bin sicher, dass jedem derselbe Gedanke durch den Kopf schoss: Ist er von sich aus hier, oder weil sein Vater ihn geschickt hat?
Nate fand als Erster seine Sprache wieder. »Unser Aufseher ist im Moment nicht hier. Hast du ihm etwas mitzuteilen?«
Es war eine vorsichtige Reaktion, und ich wusste s o fort, dass Nate sich für unseren Aufseher in die Bresche warf. War es möglich, dass er uns an diesem Abend gar nicht hätte allein lassen dürfen? Ich bewunderte Nates Mut und seine Loyalität, zweifelte aber an der Klugheit seines Handelns.
Caulder trat in das Zimmer wie eine Ratte, die gewi t tert hat, dass die Katze ausgeflogen ist. »Oh ja, ich habe ihm etwas mitzuteilen. Jemand sollte ihm sagen, dass er die Schwanzräude kriegt, wenn er sich nicht von Strumpfband-Annes Mädchen fernhält.«
Der Spruch kam so unerwartet und klang aus dem Mund des Jungen so komisch, dass der ganze Saal laut losprustete. Strumpfband-Anne war ein billiges Bordell am Rande der Stadt, unweit der Akademie. Gleich beim ersten Sechsttag-Gottesdienst waren wir streng ermahnt worden, uns von ihm und ähnlichen Etablissements fer n zuhalten, und seither hörten wir von jedem Oberklässler jeden Tag Geschichten von Annes w ilden Mädchen. Caulder stand da und grinste, mit leicht geröteten Wa n gen, sichtlich zufrieden mit der Wirkung seiner Worte. Später sollte ich begreifen, dass dies eine Masche von ihm war. Zuerst trumpfte er mit der Autorität seines V a ters auf, um zu sehen, wer sich davon beeindrucken ließ, und wenn ihm das nicht die gewünschte Anerkennung brachte, riss er irgendeinen groben Witz, um zu sehen, wessen Aufmerksamkeit er damit gewann. Wäre ich älter gewesen, hätte ich es als das erkannt, was es war: das verzweifelte Bemühen eines Jungen, sich mit allen Mi t teln Anerkennung und Akzeptanz zu verschaffen. An jenem Abend jedoch war ich gleichsam überrumpelt von Caulders forschem Auftreten und lachte lauthals mit den anderen, obwohl mich seine Worte schockierten. Hätte ich in seinem Alter bei mir zu Hause solche Reden g e führt, hätten mein Vater oder mein Tutor mich übers Knie gelegt und mir kräftig den Hintern versohlt.
Ermuntert durch unser Lachen, trat Caulder noch ein paar Schritte näher. »Ah, ich sehe, Sie sind alle schwer mit Lernen beschäftigt!«, sagte er, und seine Stimme troff nur so von Spott. Mit leuchtenden Augen schlende r te er durch den Raum, als hätte er ein Recht, dort zu sein. Die meisten Kadetten beäugten ihn mit neugierigem Blick, als er sich ihnen näherte. Kort legte einen leeren Bogen Papier über den Brief, den er gerade aufgesetzt hatte. Caleb schlug ein Buch auf, um seinen Schundr o man dahinter zu verstecken. Gegenüber von mir suchte sich Spinks Bleistift einen Weg durch eine weitere Reihe von Mathematikaufgaben. Als hätte Spinks fehlende Aufmerksamkeit ihn herausgefordert, blieb Caulder hi n ter Spink stehen und starrte ihm beim Lösen seiner Au f gaben über die Schulter.
»Achtmal sechs ist achtundvierzig, nicht sechsun d vierzig! Das weiß sogar ich!« Er wollte mit dem Zeig e finger auf Spinks Fehler tippen, doch Spink wehrte ihn mit einer Armbewegung ab wie ein lästiges Insekt. Ohne den Blick von seinem Blatt zu heben, fragte Spink: »Weißt du denn auch, dass dies das Gemeinschaftszi m mer für die Erstjährler von Haus Carneston ist und kein Spielzimmer für kleine Jungs?«
Das spöttische Lächeln verschwand schlagartig aus Caulders Gesicht. »Ich bin kein kleiner Junge!«, erklärte er wütend. »Ich bin elf Jahre alt und der Erstgeborene des Kommandanten dieser Einrichtung. Sie scheinen sich nicht darüber im Klaren zu sein, dass mein Vater Oberst Stiet ist!«
Spink hob nun doch seinen Blick von dem Blatt mit den Matheaufgaben und schaute den Knaben mit festem Blick an. »Mein Vater war Lord Kellon Spinrek Kester. Davor jedoch war er Hauptmann Kellon Spinrek Kester. Ich bin
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