Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Gelände der Königlichen Kavallaakademie mit auf den Weg bekommen zu müssen. Ich wünschte plötzlich, ich hätte mich nicht angeboten nachzuschauen, was passiert war, aber jetzt konnte ich nicht mehr zurück. Ich nickte Spink und Gord zu und rannte in die Richtung des Kutschpfads. Der Wind blies in heftigen Böen, und der Regen peitschte mir ins Gesicht. Ich sah niemanden, und ich begann zu hoffen, dass Caulder gelogen hatte und es keinen weiteren verletzten Kadetten gab. Tatsächlich ha t te ich auch schon die Richtung geändert und lief zum Wohnheim, als ich ein Stöhnen hörte. Ich blieb stehen und blickte mich um. Im Schatten der Bäume am Kutschpfad bewegte sich etwas. Ich rannte dorthin. Es war ein Mann, und er lag auf der nassen Erde. Er trug einen dunklen Mantel, und die Dunkelheit unter den Bäumen hatten ihn vor meinen Blicken verborgen. Ich war überrascht, dass Caulder ihn gesehen hatte.
»Sind Sie verletzt?«, fragte ich ihn und kniete mich neben ihn auf den Boden. Dann stieg mir der Geruch von Alkohol in die Nase. »Oder bloß betrunken?« Meine Stimme muss ziemlich missbilligend geklungen haben. Kadetten war es strikt verboten, auf dem Gelände der Akademie zu trinken, und ein Ausbilder würde ganz s i cher nicht betrunken auf dem Akademiegelände heru m liegen.
»Nicht betrunken«, sagte er mit schwacher, heiserer Stimme. Die Stimme kam mir bekannt vor. Ich beugte mich etwas tiefer über sein Gesicht. Es war von Blut und Matsch verschmiert, aber ich erkannte den Kadettenleu t nant Tiber wieder, der mich während der Initiation vor einer Demütigung bewahrt hatte. Ich beschloss, mich nicht mit ihm wegen seines alkoholisierten Zustandes zu streiten.
»Aber Sie sind verletzt. Bleiben Sie ganz still liegen. Caulder ist unterwegs, den Arzt holen.« Es war zu du n kel, als dass ich mir ein Bild von seinen Verletzungen hätte machen können, aber ich war erfahren genug, um zu wissen, dass es besser war, wenn ich nicht versuchte, ihn zu b ewegen. Das Beste, was ich für ihn tun konnte, war, Wache zu halten, bis Caulder mit Hilfe kam.
Trotz meiner Mahnung, still zu liegen, scharrte er matt mit der Hand über den Boden, als wolle er aufstehen. »Die haben mich überfallen und zusammengeschlagen. Waren zu viert. Meine Papiere?«
Ich schaute mich um. Ein paar Fuß von mir entfernt sah ich etwas Dunkles auf der Erde liegen. Es war ein Ranzen. Daneben fand ich ein matschverschmiertes Buch und eine Handvoll Blätter, auf denen offensichtlich j e mand herumgetrampelt hatte. Ich sammelte sie auf und brachte sie zu ihm. »Ich habe Ihre Papiere«, sagte ich.
Er gab keine Antwort.
»Leutnant Tiber?«
»Er hat das Bewusstsein verloren«, sagte eine Stimme. Vor Schreck wäre ich fast aus der Haut gefahren. Serg e ant Duril hätte, wenn er da gewesen wäre, mehr getan, als mir bloß einen Stein an den Kopf zu werfen. Ich hatte die drei Gestalten, die sich mir im strömenden Regen von hinten genähert hatten, überhaupt nicht bemerkt.
»Besoffen wie ein Seemann«, sagte der Mann, der schräg links hinter mir stand. Ich drehte mich um, um zu sehen, wer er war, aber er trat ein paar Schritte zurück. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, aber seine Stimme kannte ich. Ich erhaschte einen Blick auf die Jacke, die er unter seinem Mantel trug. Er war ein K a dett. »Wir sahen ihn hier ankommen. Eine Kutsche hat ihn aus der Stadt zurückgebracht. Er ist bis hierher geto r kelt und hat dann das Bewusstsein verloren.«
Hätte ich nicht neben Tiber gekniet, dann hätte ich den Zusammenhang wahrscheinlich nicht hergestellt. Jetzt aber war ich von einer kalten Gewissheit erfüllt. Der K a dett, der mich angesprochen hatte, war der Drittjährler Jaris – der, der mir während der Initiation befohlen hatte, mich auszuziehen.
Ich sagte etwas Tollkühnes. Es wurde mir erst b e wusst, als mir die Worte bereits entschlüpft waren. Ich sagte: »Er behauptet, er sei von vier Männern überfallen worden.«
»Er hat mit Ihnen gesprochen?« Aus der Stimme des dritten Mannes war deutlich die Bestürzung herauszuh ö ren. Ich erkannte die Stimme nicht. Sie war schrill vor Angst.
»Was hat er gesagt?«, fragte der Kadett Ordo. Die Puzzleteile fügten sich allmählich zusammen, und das Bild, das dabei entstand, gefiel mir g anz und gar nicht. »Was hat er Ihnen gesagt?«, wiederholte Ordo und kam näher. Ich begriff, dass es ihm gleichgültig war, ob ich ihn erkannte oder nicht.
»Nur das. Dass vier Männer ihn überfallen
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