Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Regen machte mir nichts aus. Er war sanft und weich, und seine Kühle hatte fast etwas Angenehmes. Die bewaldete Schlucht kam mir sehr ve r traut vor, als sei ich dort schon oft gewesen. Ich war nicht für das Wetter gekleidet, sondern saß mit nackten Armen und Beinen im Regen und genoss ihn. »Komm«, sagte sie. »Begleite mich e in Stück und sprich mit mir. Ich muss sicher sein, dass ich verstehe, was ich mit de i nen Augen gesehen habe.«
Wir verließen ihren Baum, und ich ging voran auf e i nem kurvigen Pfad, der durch einen Wald von Baumri e sen führte. An manchen Stellen schützte uns das Blätte r dach vollkommen vor dem Regen. An anderen tropfte das Wasser hernieder, von Blatt zu Zweig zu Ast zu Blatt und schließlich auf den Waldboden, der es gierig aufsog. Das störte weder sie noch mich. Mir fiel auf, dass sie j e des Mal, wenn ich ihr den Blick zuwandte, irgendwie ein Teil der Bäume zu sein schien, obwohl es schien, als g e he sie ungehindert neben mir. Hier strich sie mit der Hand über die Rinde eines Baumes, dort verfing sich ihr Haar im Geäst eines anderen. Stets war sie in Berührung mit ihnen. Trotz ihrer mächtigen Leibesfülle hatte ihr schwerfälliger Gang etwas Anmutiges. Die fleischigen Wölbungen, die ihre Silhouette zu Kurven rundeten, wirkten auf mich ebenso wenig abstoßend wie der gewa l tige Umfang eines großen Baumes oder der riesige R e genschirm, den er mit seinen Ästen und Blättern über uns aufgespannt hielt. Ihre Größe war Reichtum, ein Zeichen von Geschick und Erfolg für ein Volk, das vom Jagen und Sammeln lebte. Und auch das kam mir vertraut vor.
Je tiefer ich in ihren Wald vordrang, desto mehr e r kannte ich von dieser Welt wieder. Mir war der Pfad, dem ich folgte, vertraut, und ich wusste, dass er zu einem Felsengrund führte, an dem ein Bach von einer steinigen Klippe floss, um sich dann plötzlich kopfüber als gli t zernder silberner Bogen in den Wald unten zu stürzen. Es war ein gefährlicher Ort. Die Felsen nahe am Rand waren stets grün und glitschig, aber nirgendwo sonst war das Wasser so kühl und so frisch, selbst wenn Regen fiel. Es war ein Ort, den ich sehr mochte. Sie wusste das. Dass sie mich im Traum dorthin gehen ließ, war eine meiner Belohnungen.
Belohnungen wofür?
»Was würde denn geschehen«, fragte sie mich, »wenn viele der Soldatensöhne, die die künftigen Befehlshaber sein sollen, getötet würden und niemals gen Osten zögen, um ihr Volk in den Wald zu führen? Würde das das Ende der Straße bedeuten? Würde das diese Leute zur Umkehr zwingen?«
Ich hatte über etwas anderes nachgedacht und kehrte nun von meinem Gedankenausflug zu ihrer Frage zurück. »Es würde sie für eine Weile in ihrem Vorwärtsdrang hemmen. Aber es würde sie weder aufhalten noch z ur Umkehr zwingen. In Wahrheit wird nichts die Straße aufhalten. Du kannst ihren Bau lediglich verzögern. Mein Volk glaubt, dass die Straße ihm Reichtum bringen wird. Holz, Fleisch und Felle. Und schließlich eine Straße zu dem Meer jenseits des Gebirges und Handel mit den Menschen dort.« Ich schüttelte resigniert den Kopf. »S o lange Reichtum winkt, wird mein Volk einen Weg zu ihm finden.«
Sie sah mich böse an. »Du sagst ›mein Volks wenn du von ihnen sprichst. Aber ich habe es dir immer wieder gesagt: Du bist nicht mehr einer von ihnen. Wir haben dich zu uns geholt, und du gehörst jetzt zum VOLK.« Sie legte den Kopf schief und schaute mir tief in die Augen. Ich hatte das Gefühl, dass sie in mich hineinblickte und auf der anderen Seite wieder hinaus, in andere Augen gewissermaßen, von denen ich nicht wusste, dass ich sie besaß. »Was ist, Sohn eines Soldaten? Beginnst du, dir beider Welten bewusst zu werden? Das ist nicht gut. Das solltest du nicht, noch nicht.« Sie legte mir sanft die Hand auf den Kopf.
Es war eine angenehme, tröstliche Berührung, die je g liche Angst verscheuchte. Alle Sorgen, die ich gehabt hatte, waren von mir abgefallen. Alles würde gut werden.
Sie hob beide Hände und strich sich damit über das Gesicht und das Haar, ganz sanft, als wolle sie mir damit die Angst nehmen, die sie bei mir spürte. Dann blickte sie mich durch ihre dicken Finger an. »Du hast immer noch nicht von deiner Magie gesprochen, Soldatensohn. In dem Moment, da sie dir zuteil wurde, begann sie durch dich zu wirken. Was hast du für uns getan? Die Magie erwählte dich. Ich fühlte, wie sie sich deiner bemächtigte. Alle wissen, dass ein Mensch seine Pflicht erfüllt,
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