Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
in seinem Gesicht wirkten tiefer, und seine Augen hatten jeden Glanz verloren.
»Vielleicht kommt der Matsch daher, dass er hingefa l len ist, als er versuchte, zum Wohnheim zu gehen«, ließ sich Ordo erneut ungefragt vernehmen. Wir drehten uns alle zu ihm um. Was er sagte, klang für mich sehr an den Haaren herbeigezogen, und der Doktor musste das ebe n so empfunden haben, denn er fuhr ihn ziemlich scharf an: »Sie kommen mit uns! Ich will, dass Sie alles aufschre i ben, was Sie gesehen haben, und es dann unterzeichnen. Burvelle, Sie gehen zurück in Ihr Wohnheim. Und du, Caulder, mach, dass du nach Hause kommst! Ich will dich heute Nacht nicht noch einmal sehen!«
Caulder hatte sich im Hintergrund gehalten, am Rande des Lichtkreises der Laterne. Er hatte Tiber mit einem Ausdruck angestarrt, aus dem zugleich Faszination und Entsetzen sprachen. Als er die Worte des Doktors hörte, fuhr er zusammen, und dann trollte er sich in die Nacht. Ich bückte mich und hob Tibers Tornister und seine P a piere auf.
»Geben Sie die mir!«, befahl der Doktor brüsk, und ich reichte sie ihm.
Der Doktor musste ein Stück in dieselbe Richtung gehen wie ich, also ging ich auf der anderen Seite der Trage neben ihm her. Der schwankende Lichtschein der Laterne ließ die Schatten wie Ebbe und Flut über Tibers Gesicht huschen und verzerrte seine Züge. Er war sehr blass.
Ich verließ die triste Kavalkade am Zufahrtsweg zu Haus Carneston. Die Fenster in den oberen Stockwerken waren alle dunkel, aber an der Tür brannte immer noch eine Lampe. Als ich hineinging, raffte ich meinen ganzen noch vorhandenen Mut zusammen und machte Meldung bei Sergeant Rufet. Er starrte mich an, als ich meine En t schuldigung stammelte, warum ich erst nach dem Za p fenstreich gekommen war. Ich dachte, er würde mich dafür ins Gebet nehmen, aber er nickte bloß und sagte: »Ihr Freund hat mir bereits gesagt, dass Sie nach einem Verletzten schauen wollten. Das nächste Mal kommen Sie erst zu mir und machen Meldung, bevor Sie losre n nen. Ich hätte einen der älteren Kadetten mit Ihnen schi c ken können.«
»Jawohl, Sir«, sagte ich müde. Ich wandte mich zum Gehen.
»Kadettenleutnant Tiber, sagten Sie.«
Ich wandte mich wieder um. »Ja, Sir. Er war übel z u gerichtet. Und betrunken. Deshalb glaube ich nicht, dass er sich noch großartig hat wehren können.«
Sergeant Rufets Brauen zogen sich zusammen. »B e trunken? Nicht Tiber. Der Junge trinkt keinen Tropfen. Irgendjemand lügt da.« Und dann, als würde ihm plöt z lich bewusst, was er gesagt hatte, biss er sich förmlich auf die Zunge. »Gehen Sie ins Bett, Kadett. Leise«, brummte er mit einem Moment Verzögerung. Ich ging.
Im Gemeinschaftsraum wartete Spink im Nachthemd auf mich. Er folgte mir in unsere Stube, und während ich mich im Dunkeln auszog, erzählte ich ihm leise alles. Er schwieg. Ich schüttelte meine feuchte Uniform aus, aber ich wusste, dass sie immer noch feucht sein würde, wenn ich sie am nächsten Morgen wieder anzog. Das war kein angenehmer Gedanke zur Nacht. Stattdessen versuchte ich, mich auf Carsina zu konzentrieren, aber sie erschien mir plötzlich unendlich fern, zeitlich wie räumlich; Mä d chen zählten vielleicht doch nicht so viel wie die Frage, wie ich mich für den Rest meines ersten Jahres schlagen würde. Ich war im Bett, ehe Spink seine Frage stellen konnte.
»Hast du den Alkohol in seinem Atem gerochen?«
»Er roch danach, ja.« Wir wussten beide, was das b e deutete. Sobald Tiber genesen war, würde er suspendiert und bestraft werden. Wenn er denn genas.
»Nein, ich meine, roch sein Atem danach? Oder kam der Geruch bloß von seinen Kleidern?«
Ich versuchte mich zu erinnern. »Ich weiß es nicht. Ich bin nicht auf die Idee gekommen, das genauer zu übe r prüfen. Ich habe bloß den Alkohol gerochen, und er roch sehr stark danach.«
Erneutes Schweigen folgte meinen Worten. Dann: »Doktor Amicas scheint mir ein gescheiter Kopf zu sein. Er wird feststellen können, ob Tiber wirklich betrunken war oder nicht.«
»Wahrscheinlich«, stimmte ich ihm zu, aber ich war nicht sicher, ob ich das glauben sollte. Es gab nicht mehr viel, woran ich noch glaubte.
Ich schlief ein und hatte einen Traum. Die alte dicke Baumfrau saß mit dem Rücken an ihren Stamm gelehnt, und ich stand vor ihr. Regen prasselte auf uns beide he r ab. Mich durchweichte er, sie wurde nicht einmal nass. Sobald er sie berührte, wurde er aufgesogen, als wäre ihr Fleisch durstige Erde. Der
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