Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
hätten.« Meine Stimme bebte, ich zitterte vor Kälte, und zugleich kroch mir eiskalte Angst den Rücken hoch.
»Ja, aber er ist betrunken! Wer glaubt so einem denn auch nur ein Wort? Sie können jetzt weitergehen, Kadett. Wir werden uns schon um ihn kümmern.«
»Caulder ist schon unterwegs, Hilfe holen«, erwiderte ich. Ich war fast sicher, dass sie das wussten. »Er selbst hat mich hierher geschickt«, fügte ich kühn hinzu und war mir im selben Moment nicht sicher, ob das klug g e wesen war oder nicht. Ich bezweifelte, dass Caulder g e gen sie aussagen würde, wenn sie mich wegschleppten, umbrachten und in den Fluss warfen. In dem strömenden Regen und dem kalten Wind, mit einem toten oder b e wusstlosen Tiber, der vor mir auf der Erde lag, erschien mir dieser Gedanke plötzlich gar nicht mehr so abwegig. In diesem Moment hätte ich nichts lieber getan als aufz u stehen, mir den Matsch von den Knien zu wischen und ihnen zu sagen, dass ich zurück auf meine Stube gehen würde. Aber wenn ich auch nicht feige genug war, Tiber dort liegen zu lassen, so war ich auch nicht mutig genug, laut zu äußern, was ich vermutete: Sie hatten ihn aus der Kutsche steigen sehen, mitbekommen, dass er getrunken hatte, und gewusst, dass er in diesem Zustand kein Ge g ner für sie war.
»Gehen Sie nach Hause, Kadett Burvelle«, befahl O r do mir. »Wir haben hier alles im Griff.«
Der Zufall bewahrte mich davor, in jener Nacht en t scheiden zu müssen, ob ich ein Mann oder ein Feigling war. Ich hörte das Knirschen eiliger Schritte auf dem Kiesweg. Durch den Regen und die Dunkelheit konnte ich die Gestalt von Doktor Amicas ausmachen. Er trug eine Laterne, und sie warf einen kleinen Kreis aus Licht um ihn herum, als er sich näherte. Zwei kräftigere Mä n ner folgten ihm mit einer Trage. Vor lauter Erleichterung bekam ich ganz weiche Knie, und ich war froh, dass ich nicht stand. Ich winkte heftig und rief: »Hierher! Kade t tenleutnant Tiber ist verletzt!«
»Wir glauben, er ist in der Stadt zusammengeschlagen worden, dann in einer Kutsche hierhergekommen und ohnmächtig zusammengebrochen. Er ist betrunken«, plapperte Ordo unaufgefordert drauflos. Ich rechnete damit, dass die anderen seine Worte bestätigen würden, aber als ich mich umwandte, war niemand mehr da.
»Aus dem Weg, Junge!«, befahl mir Doktor Amicas. Ich machte Platz, und er stellte die Laterne neben Tiber auf die Erde. »Sieht schlimm aus«, sagte er nach einer kurzen Inspektion von Tibers Gesicht. Er war noch ganz außer Atem von seinem eiligen Trab zum Schauplatz des Geschehens. Ich wandte mich ab, weil ich das Gefühl hatte, mich übergeben zu müssen. Ein harter Schlag mit irgendeinem scharfen Gegenstand hatte Tiber den Sch ä del gespalten, und über seinem Ohr klaffte eine furchtb a re Wunde. »Hat er mit Ihnen gesprochen?«
»Er war bewusstlos, als wir ihn fanden«, sagte Ordo hastig.
Der Doktor war kein Dummkopf. »Haben Sie nicht gesagt, er sei in einer Kutsche hierhergekommen? Der Kutscher hat ganz gewiss keinen bewusstlosen Kadetten erst hier herüber geschleppt und dann abgeladen wie e i nen Sack Kohlen, um wieder wegzufahren.« Harte, kalte Skepsis lag in der Stimme des Arztes. Das gab mir den Mut zu sprechen.
»Er hat anfangs mit mir gesprochen, als ich hierher kam. Während wir Gord zurück nach Haus Carneston brachten, ist Caulder an uns vorbeigerannt und hat g e sagt, jemand sei verletzt. Also bin ich hierher gelaufen, weil ich dachte, ich könnte vielleicht helfen. Er war noch bei Bewusstsein, als ich ankam. Er sagte, er sei nicht b e trunken. Und dass er von vier Männern angegriffen wo r den sei. Und er bat mich, seine Papiere in Sicherheit zu bringen.«
Der Doktor beugte sich über das Gesicht des Bewuss t losen, schnupperte misstrauisch und richtete sich wieder auf. »Nun, nüchtern riecht er ganz sicher nicht. Aber vom Trinken allein platzt einem auch nicht der Schädel auf. Und den Matsch auf seinem Gesicht und an seinen Kle i dern, den hat er auch nicht aus der Stadt.« Er hob den Kopf und starrte Ordo an. »Er kann verdammt von Glück reden, dass er nicht tot ist nach dem Hieb, den er auf den Kopf bekommen hat.« Als Ordo nichts sagte, befahl der Doktor seinen beiden Helfern: »Legt ihn auf die Trage und schafft ihn ins Krankenrevier.«
Der Arzt stand auf und hielt die Laterne so, dass seine beiden Gehilfen Tiber vorsichtig auf die Trage hieven konnten. Im dem fahlen Licht sah der Doktor älter aus als in seinem Büro. Die Falten
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