Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
war, konnte dafür aber keinen wirklichen Beweis vorl e gen. Ich fragte mich immer noch, ob ich mit meinem Verdacht nicht zu Doktor Amicas gehen sollte, und ich fragte mich auch, ob mein Zögern Feigheit oder Pragm a tismus war.
Die Nachricht von Tibers unehrenhafter Entlassung ließ alle Neugier hinsichtlich dessen, was Gord zugest o ßen war, in den Hintergrund treten. Von meinen Stube n genossen war ich ziemlich enttäuscht, denn die meisten von ihnen akzeptierten blind die Mär, er habe sich all diese Prellungen und Schürfwunden beim Sturz von der Bibliothekstreppe zugezogen. Ein zusätzliches Souvenir, das er von seinem »Sturz« mitgebracht hatte, war ein prächtiges blaues Auge. Außerdem humpelte er, wenn wir zum Unterricht und zurück marschierten. Gleichwohl schien er sich still über irgendetwas zu freuen. Ich kam zu dem Schluss, dass ich ihn schlicht nicht verstand.
Als ich zum Mittag nach Haus Carneston zurückkeh r te, fühlte ich mich leer und niedergeschlagen. Da fand ich ein unerwartetes Schreiben von meinem Onkel vor. Er erwähnte darin die bevorstehenden Urlaubstage und versprach mir, am Freitagabend vorbeizukommen und mich abzuholen, damit ich meine freien Tage nicht im Wohnheim verbringen müsse. Ich muss Spink zugute halten, dass er versuchte, so auszusehen, als freue er sich für mich, als ich ihm die Neuigkeit mitteilte, obgleich wir beide wussten, dass sie ihn dazu verdammte, allein z u rückzubleiben.
»Ich brauche die Zeit zum Lernen«, erklärte er tapfer. »Und ich weiß, dass du dich dort wohlfühlen wirst. Mach dir um mich keine Gedanken. Bring mir ein paar von di e sen köstlichen Zimtplätzchen mit, die deine k leine Base beim letzten Mal für dich gebacken hat. Und genieße die Tage.«
Nate und Kort hatten ebenfalls Post bekommen. Zu i h rer Bestürzung erfuhren sie, dass die Pläne geändert wo r den waren. Sie würden bei Nates Großtante in Alt-Thares übernachten. Ihre Schwestern und Freundinnen würden im Haus von Korts Onkel untergebracht werden. Damit war das abendliche Stelldichein, das die vier heimlich geplant hatten, jäh zunichte gemacht, und Nates jüngere Schwester wurde gehörig als Klatschbase bescholten.
Nach dem Unterricht beeilten wir uns, in unsere U n terkünfte zurückzukommen und zu packen. Während wir die Treppe zu unserer Stube hinaufgingen, wurde ich doch tatsächlich von Gord überholt. Als ich den Gemei n schaftsraum erreichte, kam er mir schon wieder entg e gen, seinen bereits zuvor gepackten Reisesack über der Schulter. Ein breites Grinsen beherrschte sein feistes und ramponiertes Gesicht.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte ich. »Was bist du so vergnügt?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich werde während der freien Tage meine Eltern sehen. Mein Vater ist in die Stadt gekommen, wegen der Ratsversammlung. Ich bin immer sehr gerne bei meinem Onkel. Und Cilima wird auch dort zu Besuch sein. Sie wohnt nur ein paar Meilen von meinem Onkel entfernt.«
»Wer ist Cilima?«, fragte ich, und alle Kadetten um mich herum verstummten, um die Antwort nicht zu ve r passen.
»Meine Verlobte«, sagte Gord und wurde ganz rot. Ein paar schauten skeptisch oder witzelten, aber dann zog er schüchtern ein Bild von einem Mädchen mit r a benschwarzem Haar und großen schwarzen Augen he r vor. Das Mädchen war von atemberaubender Schönheit, und als Trist ihn schelmisch fragte, ob sie denn wisse, welches Schicksal ihr blühe, erwiderte Gord mit Würde, dass ihre Zuneigung zu ihm und ihr Glaube an ihn der Grundpfeiler seiner Standhaftigkeit auch in schweren Zeiten sei. Einmal mehr wurde mir klar, dass an Gord mehr zu sein schien, als irgendeiner von uns es sich vo r gestellt hatte. Er war der Erste, der abfuhr, und die and e ren folgten ihm kurz darauf, denn sie hatten alle schon am Abend zuvor gepackt.
Spink folgte mir in unsere Stube und sah wehmütig zu, wie ich ebenfalls packte, und begleitete mich dann tapfer hinunter zur Auffahrt, um gemeinsam mit mir auf die Kutsche meines Onkels zu warten. Während w ir wart e ten, unterhielten wir uns. Andere Kutschen und Wagen kamen, nahmen Kadetten auf und fuhren wieder. Ich konnte spüren, wie sehr er mich darum beneidete, dass ich dem Akademiealltag für zwei ganze Tage entrinnen würde, aber er verbarg seinen Neid gut und sagte nur, ich solle an ihn denken, wenn ich Essen serviert bekäme, das zum Genießen und nicht bloß zum Stillen des Hungers zubereitet worden sei.
Ich hatte erwartet, dass mein Onkel eine
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