Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
größten Teils der Fahrt schaute er aus dem Fenster, und ich konnte ihm das wirklich nicht übel nehmen, denn Epiny starrte ihn die ganze Zeit über unverhohlen an und blies dabei auf ihrer Pfeife. Ich fand ihr Betragen ziemlich kindisch für ihr Alter und wunderte mich, dass ihr Vater ihr das durchg e hen ließ, aber er schien ganz darin gefangen, mich über den Fortgang meines Studiums, meinen Tagesablauf, meine Klassenkameraden und Lehrer auszufragen, und ignorierte seine ungeratene Tochter.
Einmal, mitten in einem Satz, als mein Onkel mir g e rade eine Geschichte aus seiner Zeit auf dem Internat erzählte, nahm sie die Pfeife aus dem Mund, zeigte mit ihr auf Spink und sagte vorwurfsvoll: »Kellon Spinrek Kester. Habe ich Recht?«
Spink, sichtlich verblüfft, antwortete bloß mit einem einmaligen, h eftigen Nicken. Als mein Onkel mich fr a gend anschaute, sagte ich: »Spinks Vater war ein Krieg s held. Er wurde von Flachländern zu Tode gefoltert.«
»Er hat über sechs Stunden ausgehalten«, klärte uns Epiny auf und fügte dann für uns hinzu: »Ich liebe G e schichte. Ich stöbere viel lieber in den Tagebüchern der Soldatensöhne unserer Familie herum, als dass ich die langweiligen Geschichtsbücher lese, die wir in der Sch u le haben. Darin ist Geschichte zu einer öden Aufzählung von Daten und Orten verkommen. Im Tagebuch deines Vaters findet Spinks Vater Erwähnung, Nevare. Wusstest du das?«
»Nein, bis eben noch nicht, Epiny«, sagte ich, wobei ich sie bewusst beim Vornamen nannte, um sie indirekt mit der Nase darauf zu stoßen, dass sie Spink gerade ei n fach so bei seinem Spitznamen genannt hatte. Kaum ha t te ich das getan, zuckte ich innerlich zusammen, weil ich dachte, mein Onkel könne mich womöglich für unhöflich halten, aber wahrscheinlich hatte er es nicht einmal b e merkt. Ich war bestürzt, als Spink ganz leise sagte: »Ich würde diese Tagebucheinträge gerne lesen, wenn ich darf, Lord Burvelle.«
»Natürlich dürfen Sie das, Kadett Kester«, antwortete mein Onkel freundlich. »Ich fürchte nur, wir werden d a bei auf Epiny angewiesen sein, dass sie sie uns herau s sucht. Mein Bruder, Nevares Vater, hat uns in der Zeit seines Dienstes für den König fünfundzwanzig Bände geschickt. Während seiner Zeit als Soldatensohn war er ein sehr produktiver Schreiber.«
»Das finde ich ganz schnell«, versprach Epiny. »Und wenn du möchtest, kann ich die betreffenden Stellen für dich abschreiben. Sie wären bestimmt eine hübsche Ei n leitung für deine eigenen Tagebücher.« Sie lächelte ihn herzlich an, während sie das sagte, und Spink lächelte schüchtern zurück.
Als wir ankamen, sprang Epiny noch vor meinem O n kel aus der Kutsche und rief über die Schulter: »Ich laufe schnell ins Haus und sage ihnen, dass sie noch ein z u sätzliches Gedeck für Spink auflegen sollen. Ich habe einen Bärenhunger! Heute früh habe ich doch bloß einen Apfel und eine Scheibe Speck heruntergekriegt, weil ich so aufgeregt war, dass wir euch abholen wollten.«
Mein Onkel entstieg der Kutsche etwas gesitteter, und wir folgten ihm ins Haus. Ein Diener kam, um meinen Reisesack und Spinks abgewetzten Lederkoffer entg e genzunehmen. Mein Onkel wies den Diener an, uns in nebeneinanderliegenden Zimmern unterzubringen. An uns gewandt fügte er hinzu: »Du, Nevare, wirst in dem Zimmer schlafen, das ich als kleiner Junge hatte, und dein Freund kommt in das alte Zimmer deines Vaters. Die beiden Zimmer teilen sich ein Wohnzimmer, das früher unser Unterrichtsraum war. Ich glaube, dort sind noch immer viele von unseren alten Sachen; ihr werdet sie wahrscheinlich komisch finden. Ich glaube, ich übe r lasse euch jetzt beide Epiny zu guten Händen, und wir sehen uns dann zum Abendessen. Ist das in eurem Sinn?«
Natürlich war es das, und ich bedankte mich herzlich bei ihm, bevor wir dem Diener die Treppe hinauf folgten. Ich packte rasch meine Sachen aus und ging dann durch den Verbindungsraum in Spinks Zimmer. Als ich herei n kam, stand er da, den abgewetzten Koffer zu seinen F ü ßen, und starrte mit staunenden Augen in die Runde, als hätte er noch nie in seinem Leben ein Schlafgemach g e sehen. Sein Mund stand leicht offen, während er seinen Blick über das mit feinen Schnitzereien verzierte Bettg e stell und den dazu passenden Kleiderschrank, die mit prachtvollen Stickereien geschmückten Wandbehänge, die schweren Vorhänge und den reich verzierten Schrei b tisch schweifen ließ. Er drehte sich zu mir um
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