Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
und sagte: »Ich hatte ja keine Ahnung, dass deine Familie so vo r nehm ist!«
Ich grinste. »Sind wir gar nicht. Mein Zimmer zu Ha u se ist bei weitem bescheidener als das hier, mein Freund, und allenfalls ein Drittel so groß. Dies ist das Haus eines Herrn von altem Adel, es ist über Generationen hinweg gewachsen.« Ich fuhr mit der Spitze meines Stiefels leicht über den dicken Teppich, der den Fußboden b e deckte. »Der Wert dieses Teppichs allein ist höher als alle Möbel in meinem Zimmer zu Hause. Aber du hast doch bestimmt auch Verwandtschaft aus altem Adel. Hast du denn nie das Haus besucht, in dem dein Vater aufwuchs?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie haben sehr wenig mit uns zu tun. Mein Vater hat den Adelstitel postum erhalten, musst du wissen. Mein Onkel schaute sich meine Mutter an, eine Witwe mit kleinen Kindern, und fürchtete vie l leicht, sie würde zu viele Forderungen an ihn richten, wenn er ihr sein Hilfe anböte. Also hat er ihr erst gar ke i ne angeboten. Als unser erster Verwalter sich mit einem Großteil unseres Geldes davonmachte, haben wir erfa h ren, dass die Familie meines Vaters sagte: ›Nun, so etwas passiert eben, wenn die Witwe eines Soldaten versucht, auf g roßem Fuß zu leben wie eine edle Dame.‹ Das war überhaupt nicht so, aber meine Mutter hatte keine Lust, Geld und Zeit für eine Reise nach Alt-Thares zu ve r schwenden, nur um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Sie wohnen hier, irgendwo in dieser Stadt. Dein Onkel kennt sie wahrscheinlich sogar. Aber ich nicht, und ich glaube auch nicht, dass ich sie jemals kennenlernen we r de.«
Ich überlegte noch, was ich dazu sagen sollte, als es an der Tür klopfte. Epiny marschierte fast gleichzeitig mit dem Klopfen herein und sagte: »Hier steckt ihr zwei a l so! Was trödelt ihr denn so?«
»Trödeln? Womit?«, fragte ich.
Sie sah mich an, als wäre ich begriffsstutzig, und schüttelte den Kopf. »Na, mit dem Runterkommen natü r lich, Nevare. Bis zum Abendessen dauert es zwar noch Stunden, aber ich habe etwas für uns arrangiert, damit wir bis dahin nicht verhungern müssen. Kommt mit!«
Ihr Ton ließ keinen Widerspruch zu, und sie wartete auch gar nicht, ob wir gehorchten, sondern ging einfach hinaus. Spink schaute mich an und trottete dann brav hi n ter ihr her. Ich folgte ihnen widerwillig. Meine Base stürzte mich von eine Verlegenheit in die andere. Dabei war sie eigentlich alt genug, um sich wie eine Dame zu benehmen. Ich wollte, dass Spink sich in dem schönen und würdevollen Haus meiner Ahnen willkommen fühlte – und nicht von einem unerzogenen kleinen Mädchen mit Beschlag belegt wurde.
Ein wenig machte sie das dadurch wieder gut, dass sie uns in einen kleinen Raum neben der Küche führte, in dem sie ein Picknick für drinnen arrangiert hatte. Schü s seln mit kalten Speisen und Servietten waren auf einem nackten Arbeitstisch aufgebaut. Sie selbst schnappte sich mit den bloßen Fingern einen kalten Hühnerflügel und verzehrte ihn im Stehen, und wir folgten nur zu gern i h rem Beispiel. Es gab auch eine Kanne schwarzen Tee, einen Laib Brot, Butter, Marmelade und kleine Vanill e plätzchen. Wir aßen zwanglos und ohne Umstände; die Krümel fingen wir in unseren Servietten auf. Nach uns e ren langen Monaten Akademiefraß schmeckte uns die einfache, aber schmackhafte Mahlzeit köstlich. Noch nie zuvor hatte ich ein Mädchen wie einen Jungen essen s e hen; Epiny nagte das Hühnerfleisch von den Knochen und wischte sich dann das Fett von den Lippen. Bis dahin hatte ich gar nicht gemerkt, was für einen Mordshunger ich hatte. Ich konzentrierte mich daher ganz auf das E s sen und überließ das Reden Epiny und Spink. Sie brauc h te nicht lange, u m ihm die Namen und das Alter all seiner Geschwister und einen kurzen Abriss seines bisherigen Lebens zu entlocken; kurz, sie erfuhr in jener einen Stu n de mehr über ihn als ich während der ganzen Monate auf der Akademie.
Nachdem wir ihr geholfen hatten, die Spuren unseres heimlichen Imbisses zu beseitigen, nahm sie uns mit nach draußen auf einen Spaziergang durch die Gärten. Zu den Ställen war es nur ein kurzer Weg, und ich freute mich sehr, dass ich die Möglichkeit bekommen würde, Spink mein Pferd zu zeigen. »Das ist das prächtigste Reittier, das ich jemals gesehen habe«, erklärte er mir, und ich hörte deutlich den Neid heraus, der in seiner Stimme mitschwang, während er Sirloftys stolzen Kopf bestaunte.
»Und er hat das Gemüt eines Kätzchens«, erwiderte
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