Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
wieder in die Bücher steckst. Wir wollen doch nicht, dass Meister F e der und Tinte mich wieder vorwurfsvoll anschaut, nicht wahr?«
Mit diesen Worten lenkte er sein Pferd vom Fluss, von der Straße und von der Poststation weg und geleitete mich in leichtem Trab zurück auf den Pfad, der hinunter zum Haus meines Vaters führte.
Das Haus meiner Kindheit stand auf einer sanften A n höhe oberhalb des Flusses. Auf den Wunsch meiner Mu t ter hin hatte mein Vater in einem Umkreis von zwei Morgen Bäume darum herum gepflanzt: Pappeln und Eichen, Birken und Erlen. Bewässert mit Wasser, das vom Fluss heraufgeschleppt wurde, spendeten die Bäume Schatten für das Haus und dienten zugleich als Win d schutz. Sie bildeten eine kleine grüne Insel in der endl o sen Weite des Graslandes ringsum – schattig, mild, ei n ladend. Manchmal kam mir diese Insel klein und abgel e gen vor, doch dann wieder erschien sie mir wie eine gr ü ne Festung inmitten der windgepeitschten dürren Einöde. Wir ritten jetzt auf sie zu. Die Pferde freuten sich auf kühles Wasser und darauf, sich in der Koppel zu wälzen.
Wie von Sergeant Duril vorausgesagt, stand mein Hauslehrer bereits vor der Tür und wartete auf uns. Me i ster Rissle hatte die Arme vor seiner schmalen Brust ve r schränkt und versuchte, möglichst grimmig dreinz u schauen. »Hoffentlich verdrischt er dich nicht zu sehr, weil du zu spät g ekommen bist, junger Nevare. Sieht so aus, als könnte dir das übel bekommen, so groß und krä f tig, wie er ausschaut«, sagte Duril in mildem Spott, bevor wir in Hörweite waren. Ich blieb ernst trotz seines san f ten Spotts. Duril wusste, dass er sich nicht über meinen Tutor lustig machen sollte, einen ernsten, aber schmäc h tigen jungen Gelehrten, der eigens den weiten Weg von Alt-Thares nach Breittal gekommen war, um mich Schreiben, Geschichte, Rechnen und Sternenkunde zu lehren. Auch wenn Duril seine eigene spöttische Zunge mitnichten zügelte, wusste ich doch, dass er nicht zögern würde, mir einen Klaps zu geben, wenn ich mich unte r stehen würde, über seine Sticheleien zu lachen. Also hielt ich mein Vergnügen im Zaum, als ich absaß. Ich rief Sergeant Duril ein Lebewohl hinterher, während er uns e re Pferde wegführte, und er antwortete mit einem unb e stimmten Winken.
Am liebsten wäre ich sofort zu meinem Vater gerannt, um zu erfahren, was es denn so Wichtiges gewesen war, das der Bote ihm da überbracht hatte, aber ich wusste, dass mir diese Neugier nicht gut bekommen würde. Ein ehrenhafter Soldat tat seine Pflicht und wartete auf seine Befehle, ohne sich den Kopf mit irgendwelchen Spekul a tionen zu zerbrechen. Wollte ich jemals Männer befehl i gen, musste ich zuerst lernen, Autorität anzuerkennen. Ich seufzte und folgte meinem Lehrer zum Unterricht. Der Lernstoff kam mir an diesem Tag langweiliger vor denn je. Ich versuchte mich zu konzentrieren; ich wusste, das Fundament, das ich jetzt legte, würde mein Studium an der Akademie des Königs tragen.
Als der lange Unterrichtsnachmittag vorbei war und mein Lehrer mich endlich entließ, kleidete ich mich für das Abendessen an und ging nach unten. Wir mochten zwar weit weg von jeder Stadt oder feinen Gesellschaft im Flachland leben, aber meine Mutter bestand darauf, dass wir alle die Anstandsformen beachteten, die dem Stand meines Vaters entsprachen. Meine Eltern waren beide in edle Häuser hineingeboren worden. Als jüngere Nachkommen hatten sie nie damit gerechnet, dass sie selbst eines Tages einen Adelstitel tragen würden, aber ihre Erziehung hatte bei ihnen ein waches Bewusstsein dafür entstehen lassen, was die Erhebung meines Vaters in den Adelsstand von ihnen verlangte. Erst später würde ich all die Höflichkeiten und Manieren zu schätzen wi s sen, die meine Mutter mir eingeimpft hatte, denn diese Lektionen versetzten mich in die Lage, mich auf der Akademie sicherer und gewandter zu bewegen als die meisten meiner bäuerlichen Kommilitonen.
Unsere Familie versammelte sich im Wohnzimmer und wartete dort, bis mein Vater hereinkam. Er geleitete meine Mutter ins Esszimmer, und wir Kinder folgten. Ich führte meine jüngere Schwester Yaril zu ihrem Platz, und Rosse, mein älterer Bruder, hielt galant meiner älteren Schwester Elisi den Stuhl. Vanze, der mit seinen neun Jahren jüngste Sohn meines Vaters, war zum Priester bestimmt und sprach für uns alle das Tischgebet. Sodann läutete meine Mutter mit dem Silberglöckchen, das neben ihrem Gedeck stand, und die
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