Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
gesehen hatten, und fügte v orsichtig hi n zu, dass ich sehr neugierig sei zu erfahren, was wohl eine s olche Hast ausgelöst haben mochte. Eigentlich war es keine richtige Frage, aber eine solche hing in der Luft, und ich sah, dass sowohl Rosse a ls auch meine Mutter auf eine Antwort hofften.
Mein Vater trank einen Schluck von seinem Wein. »Im Osten, auf einem der entlegensten Außenposten, ist eine Krankheit ausgebrochen. Gettys liegt am Fuße des Barrierengebirges. Der Bote bittet um Verstärkung zur Auffüllung der durch die Opfer entstandenen Lücken, um Heiler für die Versorgung der Kranken und um Wächter, die die Toten beerdigen und den Friedhof bewachen.«
Rosse traute sich als Erster, etwas zu sagen. »Es scheint mir durchaus eine dringende Botschaft zu sein, aber vielleicht doch nicht so dringend, als dass es erfo r derlich wäre, dass der Bote sie gleich selbst weiterbefö r dern müsste.«
Mein Vater warf ihm einen missbilligenden Blick zu. Offensichtlich betrachtete er grassierende Seuchen und scharenweise sterbende Menschen als Themen, die nicht zum Tischgespräch in Anwesenheit seiner Frau und se i ner jugendlichen Töchtern taugten. Möglicherweise b e trachtete er es auch als militärisches Problem und nicht als ein Thema, über das man einfach so diskutieren kon n te, bevor König Troven entschieden hatte, wie am besten damit umzugehen war. Umso überraschter war ich, dass er tatsächlich etwas auf Rosses Bemerkung erwiderte. »Der Amtsarzt von Gettys ist offenbar ein abergläub i scher Mensch. Er hat einen separaten Bericht an die K ö nigin geschickt, in dem es nur so wimmelt von seinen üblichen Spekulationen über magische Einflüsse seitens der eingeborenen Völker jener Region, und er hat darauf bestanden, dass der Bote den Bericht nicht aus der Hand gibt, bis er ihn der Königin persönlich überreicht. Unsere Königin soll sich für übernatürliche Phänomene intere s sieren, und sie belohnt diejenigen, die ihr neues Wissen übermitteln. Sie hat dem eine Erhebung in den Adel s stand versprochen, dem es gelingt, ihr einen Beweis für die Existenz eines Lebens jenseits des Grabes zu liefern.«
Jetzt erkühnte sich meine Mutter, das Wort zu ergre i fen, vermutlich wegen meiner Schwestern. »Ich erachte solche Themen nicht als geeignet für eine junge Dame. Und ich stehe mit dieser Meinung nicht allein. Ich habe Briefe von meiner Schwester und von Lady Wrohe erha l ten, in d enen sie das Unbehagen zum Ausdruck bringen, das sie empfanden, als die Königin darauf beharrte, dass sie ihr bei einer Geisterbeschwörungsseance Gesel l schaft leisteten. Meine Schwester ist eine Skeptikerin; sie sagt, das sei alles nichts weiter als eine geschickte Sinnestä u schung, herbeigeführt von den sogenannten Med i en, die diese Seancen abhalten, wohingegen Lady Wrohe schrieb, sie sei Augenzeugin von Dingen gewesen, die sie sich nicht erklären könne, und sie habe davon einen Monat lang Albträume gehabt.« Sie blickte von Elisi, die richtiggehend schockiert wirkte, zu Yaril, deren blaue Augen groß und rund waren vor Faszination und Ne u gier. An die Adresse der letzteren gerichtet fügte sie hi n zu: »Wir Damen gelten oft als launische, unwissende Geschöpfe. Ich würde mich schämen, wenn eine meiner Töchter sich mit derlei unnatürlichem Hokuspokus b e schäftigen würde. Wenn jemand den Wunsch hat, Met a physik zu studieren, dann sollte er als Erstes die frommen Texte des gütigen Gottes lesen. In der Schrift steht alles geschrieben, was wir über das Leben nach dem Tode wissen müssen. Einen Beweis dafür zu verlangen ist a n maßend und eine Beleidigung des gütigen Gottes.«
Die Worte meiner Mutter schienen ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben. Yaril saß stumm und mit betretener Miene da, während mein jüngerer Bruder Vanze, der als Nächster an der Reihe war, berichtete, er habe eine schwierige Stelle in den frommen Texten in der varn i schen Urfassung durchgearbeitet und sodann zwei Stu n den darüber meditiert. Als mein Vater Yaril fragte, wie sie denn den Tag verbracht habe, berichtete sie nur h a stig, dass sie ihre Schmetterlingssammlung um drei neue Exemplare erweitert habe und dass sie genügend Spitze geklöppelt habe, um ihr Sommerkopftuch damit besetzen zu können. Dann fragte sie zaghaft, den Blick schüchtern auf ihren Teller gesenkt: »Warum müssen sie denn den Friedhof in Gettys bewachen?«
Mein Vater zog die Stirn kraus, als sie auf das Thema zurückkam, das er bereits
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