Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
fester Stimme: »Ich bin kein Betrüger, und Spink auch nicht. Ich sage ihm, wenn seine Lösung falsch ist, und zeige ihm, was er falsch gemacht hat. Aber ausrechnen muss er immer noch alles selbst.«
Trists Stimme war sehr ruhig. »Das heißt also, wenn er deine Lösungen sehen könnte, und wenn er genügend Zeit hätte, könnte er zu denen zurückgehen, die nicht mit seinen übereinstimmen, und sie noch einmal durchrec h nen, bis er die richtige Lösung hätte. Das ist kein Betrug. Das ist, nun, Fakten nachprüfen. Berechnungen vergle i chen.«
»Ich werde das nicht tun. Ich werde es Spink nicht vorschlagen, und ich werde ihm auch nicht die Möglic h keit geben, bei mir abzuschreiben. Ich werde nicht gegen den Ehrenkodex der Akademie verstoßen.« Gords Sti m me klang wie ein Reibeisen.
»Der Ehrenkodex der Akademie sagt aber auch, dass jeder Kadett alles tun soll, was in seiner Macht steht, um jedem anderen Kadetten z um Erfolg zu verhelfen. Und du könntest mit deiner kleinlichen Weigerung, Spink se i ne Lösungen mit deinen vergleichen zu lassen, der Ka r riere von jedem Einzelnen hier im Raum ein Ende setzen. Ich würde sagen, das ist ein viel größerer Verstoß gegen den Ehrenkodex der Akademie.«
»Du verdrehst die Dinge«, erwiderte Gord, aber er wirkte plötzlich nicht mehr so sicher.
»Nein. Ich glaube, dies ist eine Prüfung, der sie uns unterziehen. Die wollen sehen, wie fest wir zusamme n halten und füreinander einstehen. Ich glaube, dass Cau l der von der Aussonderung weiß, ist ein sicheres Zeichen dafür, dass andere es auch wissen. Ich glaube, es ist ein Gerücht, das bewusst in Umlauf gesetzt worden ist. Um zu sehen, wie einfallsreich wir sind, um unsere Kamer a den zu schützen.«
So, wie Trist es sagte, klang es durchaus plausibel. Ich schaute in die Gesichter am Tisch und las in ihren Augen größtenteils Zustimmung für Trists Argumentation. N a tred schien meine Zweifel zu teilen, und zwischen Rorys Brauen war eine steile Falte, aber alle anderen nickten. Ich schaute Gord an. Er sah niemandem in die Augen. Stattdessen begann er seine Bücher zusammenzupacken. Er klemmte sie sich wortlos unter den Arm und stand auf, um den Tisch zu verlassen.
»Wir zählen auf dich, Gord. Die Karriere jedes Ei n zelnen von uns steht hier auf dem Spiel!«, rief Oron ihm nach. Einen so freundlichen Ton hatte er gegenüber dem dicken Kadetten noch nie angeschlagen. Gord gab keine Antwort.
Ich blieb noch lange nachdem ich mit meinen Aufg a ben fertig war am Tisch sitzen, um auf Spink zu warten. Schließlich gab ich es auf. Die anderen waren bereits ins Bett gegangen. Ich ließ eine einzelne Kerze für Spink brennen und folgte ihrem Beispiel. Ich versuchte zu schlafen, aber die Sorgen jagten meine Gedanken im Kreis. War Spink in Schwierigkeiten? Hatte er etwas a n gestellt, von dem ich nichts wusste? Hatte der Komma n dant ihn zu sich bestellt, um ihm schlechte Nachrichten von zu Hause zu überbringen, womöglich vom Tod eines Familienangehörigen? Ich dachte, ich würde niemals ei n schlafen, aber ich muss gedöst haben, denn ich wachte auf, als jemand die Tür zu unserem dunklen Zimmer öf f nete und wieder schloss. Ich hörte leise Schritte, und dann quietschte Spinks Bett, als er sich daraufsetzte. Ich hörte es erneut quietschen, als er sich vornüberbeugte, um seine Stiefel auszuziehen.
»Was war los?«, flüsterte ich in die Dunkelheit hinein.
Seine Stimme klang belegt. »Ich stehe unter Bewä h rung. Wegen unmoralischen Verhaltens.«
»Was?«, entfuhr es mir, lauter, als ich beabsichtigt ha t te.
»Psst! Ich möchte nicht, dass die anderen es wissen.«
»Erzähl!«
Spink setzte sich im Dunkeln auf den Boden vor me i nem Bett. Er sprach mit gedämpfter Stimme. »Ich war so erschrocken, dass ich glaubte, ich würde ohnmächtig, als Oberst Stiet mich beschuldigte. Er schrie mich an, und ich konnte zuerst nicht verstehen, was er überhaupt wol l te. Er beschuldigte mich, ein unschuldiges Mädchen auf Abwege zu führen, ein bloßes Kind mit lüsternen Ava n cen zu verderben. Ich brauchte eine Weile, um zu begre i fen, dass er Epiny meinte. Ich wusste nicht, was ich da r auf erwidern sollte, also hielt ich einfach den Mund. Je mehr ich ihn einfach nur anschaute, desto wütender wu r de er. Er brüllte mich an, Nevare, er schrie, solange er hier Kommandant sei, habe er noch nie einen so verder b ten Kadetten gesehen. Er fragte mich, wie ich so ve r kommen sein könnte, mich an ein Kind
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