Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Mit plötzlicher Gewissheit wusste ich, dass dieses Haa r büschel genau dem fehlenden Stück Kopfhaut auf me i nem Schädel entsprach. Dies war das gestohlene Ich, von dem Epiny mit Spink gesprochen hatte.
Der Baum hatte unterdessen weiter zu meinem Traum-Ich gesprochen: »Es ist gut, dass du bereit bist, denn ich werde bald mit der Magie nach dir greifen. Ich habe la n ge überlegt, ob es klug von mir war, selbst tätig zu we r den. Wenn die Magie sich ein Gefäß sucht, handelt sie normalerweise schon sehr bald durch dieses Gefäß, und die Ereignisse, die alles für das Volk richten werden, b e ginnen ihren Lauf zu nehmen. Aber du sagst, dass du nichts gemacht hast, dass die Magie nicht durch dich g e wirkt hat. Bist du dessen sicher?«
Ich beobachtete mein Traum-Ich. Es saß einen M o ment stumm da und zuckte dann beredt mit den Schu l tern. Es wusste es nicht. Ich spürte, dass es seine Fühler nach mir ausgestreckt hatte, vielleicht in dem Versuch zu erfahren, was ich dachte und was dieses Ich in der realen Welt machte, aber es konnte genauso wenig erfassen, wer und was ich war, wie i ch es begreifen konnte. Vielleicht hatte Epinys Rufen meine Träume zerbrochen und b e wirkt, dass ich seiner gewahr war. Sein Haarschopf war, wie ich jetzt sehen konnte, an der Basis geflochten und mit irgendeiner schwarzen Masse eingeschmiert, die es von seinem Schädel abstehen ließ. Eine grüne Ranke u m schlang es wie ein Band den Zopf eines Schulmädchens. Es wirkte albern auf mich, so töricht wie einer von Ep i nys Hüten.
Der Baum seufzte: ein lautes Rascheln der Blätter in seinem Geäst. »Dann werde ich handeln, obwohl ich vo l ler Zweifel bin, ob es richtig ist, wenn ich dies auf mich nehme. So alt ich bin, so weise ich geworden bin über die vielen Jahre, sehe ich doch noch immer nicht so, wie die Magie sieht. Die Magie sieht bis zum Ende all der vie l fältigen Möglichkeiten. Die Magie weiß, welches hera b fallende Sandkorn zu einem Erdrutsch führen wird. Ich sehe klarer als jeder lebende Angehörige des VOLKES. Dennoch erschauere ich vor dem, was ich tun werde.«
Und tatsächlich durchlief ein seltsamer Schauer den Baum, ein Zittern der Blätter, das unabhängig von der Luftbewegung zu sein schien. Mein Traum-Ich faltete die Hände und neigte das Haupt zum Zeichen seiner Unte r werfung. »Tu, was du tun musst, Baumfrau. Ich werde bereit sein.«
»Ich werde tun, was ich tun muss, keine Angst! Der Tanz genügt nicht mehr. Wir haben auf ihn gebaut, aber er bleibt erfolglos. Unsere Bäume fallen, und mit jedem Baum, der stirbt, geht Weisheit verloren. Kraft geht ve r loren. Der Wald ist es, was unsere Welten zusammenbi n det. Die Eindringlinge, die unseren Wald abholzen, sind wie Mäuse, die an einem Seil nagen. Die Brücke zw i schen den Welten wird schwächer. Die Magie spürt, dass sie schwächer wird, und weiß, dass sie schnell handeln muss. Ich fühle es so, wie ich den Saft des Frühlings fü h le, der mich durchströmt. Ich weiß, dass wir unsere eig e ne Brücke bauen müssen. Du hast daher nicht die Zeit, um blind auf deinem Weg voranzustolpern. Wir haben nicht die Zeit, um dich deine eigenen Fehler machen zu lassen. Du musst morgen die Prüfung bestehen.«
Prüfung. Das war das Wort, das mein zweites, be o bachtendes Ich wieder weckte. Plötzlich wusste ich, dass ich als mein wahres Ich an einem anderen Ort existierte und dass ich in diesem wahren Ich morgen eine Prüfung ablegen musste. Nach der seltsamen Logik, die Träume nun einmal haben, verlieh mir das Wissen, dass das Ich mit dem Haarbüschel auf dem Kopf ein gestohlener Teil von mir war, plötzlich Macht über e s. Ich sprach mit se i nem Mund. »Dies ist ein Traum. Nur ein Traum. Du bist nicht real, und dieses Ich ist nicht real. Ich bin der richt i ge, der echte Nevare. Und morgen werde ich die Prüfung bestehen, die es mir ermöglichen wird, meinen Weg, Soldat für mein Volk zu werden, weiterzugehen.«
Die Rinde des Baumes barst auf. Kletterpflanzen sprossen aus den Rissen und umschlangen mich. Sie packten mich und hielten mich fest. Als sie sprach, wus s te ich, dass sie zu meinem wahren Ich sprach. »Was du sagst, ist wahrer, als du glaubst. Morgen wirst du eine Prüfung ablegen. Du wirst sie bestehen und das Zeichen machen, und dann wirst du für das VOLK kämpfen.«
»Lass mich los! Lass mich in Ruhe! Ich bin ein Kava l leriesoldat wie schon vor mir mein Vater. Ich diene K ö nig Troven und dem gernischen Volk! Nicht dir! Du bist
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