Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
wünschte, unser Monarch hätte sich eine Gemahlin au s gesucht, die eine etwas weniger blühende Fantasie hat als Ihre Majestät. Ihre Begeisterung für Hokuspokus und Bo t schaften aus dem Jenseits‹ hat viel dazu beigetragen, das Interesse der Menschen für solchen Unfug anzuf a chen.«
Ich hörte den leichteren Schritt meines Bruders, als er ans Fenster trat. Er wählte seine Worte mit Bedacht, wohl wissend, dass mein Vater keine Kritik an unserem König duldete. »Ich bin sicher, dass du Recht hast, Vater. Krankheiten muss man mit Wissenschaft bekämpfen, nicht mit Talismanen oder Amuletten. Aber ich fürchte, einen Teil der Schuld an en Bedingungen, die Krankhe i ten geradezu einladen, müssen wir uns selbst zuschre i ben. Viele sagen, unsere Grenzorte seien zu üblen Stätten verkommen, seit der König den Erlass herausgegeben hat, dass Schuldner und Verbrecher ihre Strafe abbüßen und sich von ihrer Schuld befreien können, indem sie sich dort ansiedeln. Ich habe gehört, dass es dort Orte des Verbrechens und des Lasters und des Schmutzes gibt, an denen Menschen wie Ratten inmitten ihres eigenen A b falls und Mülls hausen.«
Mein Vater sagte eine ganze Weile nichts, und ich war sicher, dass mein Bruder den Atem anhielt, in Erwartung eines väterlichen Rüffels. Doch stattdessen sagte mein Vater, und ich hörte den Widerwillen, das Zögern in se i ner Stimme: »Es mag sein, dass unser König irrte, indem er ihnen diese Gnade erwies. Man sollte doch eigentlich meinen, dass sie, wenn sie schon einmal die Gelegenheit bekommen, noch einmal ganz von vorn anzufangen, in einem neuen Land, befreit von den Sünden und Misset a ten der Vergangenheit, diese Gelegenheit beim Schopf packen würden, dass sie Häuser bauen und Familien gründen und den Schmutz von einst hinter sich lassen würden. Manche tun das ja vielleicht auch, und vielleicht sind diese paar den Aufwand und die Kosten der Strä f lingszüge wert. Wenn einer von zehn sich von seiner schmutzigen Vergangenheit lösen kann, sollten wir vie l leicht bereit sein, das Scheitern der restlichen neun hi n zunehmen, als Preis für die Rettung dieses einen. Wir können schließlich nicht erwarten, dass König Troven bei Abschaum Erfolg hat, der nicht einmal die Lehren des gütigen Gottes beherzigt. Was soll man mit einem Me n schen machen, der sich nicht retten lassen will?«
Die Stimme meines Vaters war rau geworden, und ich wusste sehr gut, welche Predigt jetzt folgen würde. Er glaubte, dass jeder Mensch Herr seines eigenen Schicksal war, ungeachtet der Klasse oder der Lebensumstände, in die er hineingeboren wurde. Er selbst war das beste Be i spiel dafür. Er war als zweiter Sohn einer edlen Familie zur Welt gekommen, und deshalb erwartete die Gesel l schaft von ihm lediglich, dass er Offizier beim Militär wurde und seinem König und seinem Land diente. Und das hatte er auch getan, aber auf so vorbildliche Weise, dass er einer von denen gewesen war, die der König dazu erkoren hatte, in den Rang eines Herrn aufzusteigen. Er verlangte von anderen nicht mehr als das, was er von sich selbst verlangte.
Ich wartete darauf, dass er meinem Bruder diesen Vo r trag ein weiteres Mal hielt, aber stattdessen drang die Stimme meiner Mutter an mein Ohr. Sie rief nach meinen Schwestern, die sich wie üblich in ihren heißgeliebten Garten zurückgezogen hatten. »Elisi! Yaril! Kommt he r ein, m eine Lieben! Die Mücken werden euch überall st e chen, wenn ihr noch lange draußen bleibt!«
»Wir kommen, Mutter!«, riefen meine Schwestern z u rück, ihre Stimmen eine ausgewogene Mischung aus G e horsam und Unwillen. Ich konnte es ihnen nicht verde n ken. Vater hatte im Sommer einen wunderschönen Zie r teich für sie angelegt, und er war schnell zu ihrem Lie b lingsplätzchen geworden, an dem sie sich besonders abends gern aufhielten. Lampions aus Papier spendeten milden Lichtschein, ohne die Sterne über ihnen verbla s sen zu lassen. Vater hatte auch einen kleinen Pavillon gebaut, an dessen Gitterwänden sich Wein emporrankte. Die Wege um den Teich und den Pavillon herum waren mit allerlei wohlduftenden Nachtblühern bepflanzt. Es hatte einen ziemlichen technischen Aufwand erfordert, den Teich stets gut gefüllt zu halten, und einer der Ju n gen des Gärtners musste ihn nächtens bewachen, damit die kleinen Wildkatzen aus der Umgebung nicht die te u ren Zierfische fraßen, die Vater in ihm ausgesetzt hatte. Meine Schwestern liebten es, abends an dem Teich zu sitzen und
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