Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
wissen oder sich denken können, was sie getrieben haben. Vielleicht hat der gütige Gott in seiner Weisheit entschieden, ein E x empel an ihnen zu statuieren, auf dass alle wissen, was der Sünde Lohn ist.«
Mein Bruder war aufgestanden und folgte meinem V a ter zum Anrichtetisch. »Dann glaubst du also nicht …« Ich hörte die Vorsicht in der Stimme meines Bruders, als fürchte er, mein Vater könne ihn für närrisch halten. »… dass es ein Fleck-Fluch sein könnte, eine Art böser M a gie, die sie gegen uns anwenden?« Fast entschuldigend fügte er hinzu: »Die Geschichte habe ich von einem Wanderpriester gehört, der versucht hatte, den Fleck das Wort des gütigen Gottes zu bringen. Er kam auf seinem Weg zurück nach Westen hier vorbei. Er erzählte mir, die Fleck hätten ihn weggejagt, und eine ihrer alten Frauen habe gedroht, wenn wir sie nicht in Ruhe ließen, würden sie mit Hilfe ihrer Magie bewirken, dass eine Seuche bei uns ausbricht.«
Auch ich glaubte, mein Vater würde ihn auslachen oder maßregeln. Stattdessen erwiderte er in ernstem Ton: »Ich habe ebenso wie du Geschichten über die Magie der Fleck gehört. Die meisten dieser Geschichten sind U n sinn, mein Sohn, oder nichts weiter als der törichte Ir r glaube eines Naturvolkes. Gleichwohl ist nicht ausz u schließen, dass in jeder dieser Geschichten ein Körnchen Wahrheit steckt. Der gütige Gott, der über uns wacht, hat sonderbare und finstere Gefilde in der Welt, die er von den alten Göttern ererbt hat, bestehen lassen. Gewiss h a be ich genug Flachländer-Hexerei gesehen, um dir sagen zu können – ja, sie haben Windhexer, die Teppiche auf dem Wind schweben und Rauch wallen lassen können, ganz wie sie es wollen, ganz gleich, ob und woher der Wind weht, und ich selbst habe eine Garrotte durch eine volle Taverne fliegen und sich um den Hals eines Sold a ten legen sehen, der die Frau eines Windhexers beleidigt hatte. Als die alten Götter von dieser Welt verschwanden, ließen sie Teile ihrer Magie für die Menschen zurück, die lieber weiter in ihrer Dunkelheit leben wollten, als das Licht des gütigen Gottes zu empfangen. Aber diese Teile sind alles, was sie zurückgelassen haben. Kaltes Eisen besiegt und zügelt diese Magie. Schieße mit einer eise r nen Kugel auf einen Flachländer, und seine Magie bleibt wirkungslos gegen uns. Die Magie der Flachländer wir k te über Generationen hinweg, aber letztendlich war sie doch nur Magie. Ihre Zeit ist vorüber. Sie war nicht stark genug, um gegen die Kräfte der Zivilisation und der Wi s senschaft bestehen zu können. Wir sind auf dem Weg in eine neue Ära, mein Sohn. Ob es uns gefällt oder nicht, wir alle müssen mitziehen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, unter den Rädern des Fortschritts zermalmt zu werden. Die Einkreuzung von Shir-Stämmen in unsere Ackerpferde hat im Verein mit den neuen Spalteise n pflügen dazu geführt dass ein Landwirt doppelt so viel Land bebauen kann wie vorher. Die Hälfte von Alt-Thares verfügt heutzutage über Abwasser-Rohrleitungen, und fast alle Straßen in der Stadt sind gepflastert. König Troven hat eine pünktliche und planmäßige Beförderung von Post und Passagieren eingeführt und den Handel s verkehr auf allen großen Flüssen geregelt. Es ist gerad e zu Mode geworden, die Soudana bis nach Canby hinauf zu fahren und dann die schnelle Fahrt talwärts auf einem der eleganten Fahrgastschiffe zu genießen. Und wenn Abenteurer und Touristen sich nach Osten vorwagen, wird ihnen die Bevölkerung bald folgen. Die Siedlungen und Dörfer dort werden noch zu deinen Lebzeiten zu Städten anwachsen. Die Zeiten ändern sich, Rosse. Und ich will, dass Breittal sich mit ihnen ändert. Eine Kran k heit wie diese Fleckseuche ist bloß eine Krankheit, nicht mehr. Irgendwann wird ein Arzt ihr auf den Grund g e hen, und danach wird sie nicht mehr gefährlicher sein als das Schüttelfieber oder die Rachenfäule. Gegen ersteres half gemahlene Kenzerrinde, gegen letztere das Gurgeln mit Gin. Die Medizin hat in den letzten zwanzig Jahren enorme Fortschritte gemacht. Irgendwann wird es auch ein Mittel gegen diese Fleckseuche geben oder einen Weg, eine Ansteckung zu vermeiden. Bis dahin dürfen wir uns nicht vorstellen, dass sie mehr als eine Krankheit ist, sonst bekommen wir wie das Kind, das in seiner Fa n tasie aus dem Strumpf unter seinem Bettchen einen P o panz macht, zu viel Angst, um sie genauer unter die Lupe zu nehmen.« Gedankenverloren fügte er hinzu: »Ich
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