Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
des Heißhungers auf Leckereien trat eine Art Hochgefühl wegen meines gesunkenen Nahrungsbedarfs. Es war wie ein Rausch, schwer zu beschreiben. Nach dem fünften oder sechsten Tag mit Dewara hörte ich auf, die Tage zu zählen, und wechselte in eine Zeit, in der ich ganz ihm gehörte. Später fiel es mir immer schwer, den geistigen und körperlichen Zustand zu beschreiben, in den ich eintrat, selbst gegenüber den wenigen Vertrauten, denen ich von meiner Zeit bei dem Kidona-Krieger e r zählte.
Fast täglich jagten wir mit unseren Schleudern Fas a nen und Hasen, und wenn unsere Jagd erfolglos gebli e ben war, tranken wir Blut, das wir unseren Reittieren a b zapften. Er teilte sein Wasser und sein getrocknetes Fleisch mit mir, aber er ging sehr sparsam mit seinen Vorräten um. Oft lagerten wir ohne Wasser oder Feuer, und ich hörte auf, das Fehlen solcher Annehmlichkeiten als Entbehrung zu empfinden. Jeden Abend erzählte er Geschichten, und ich bekam allmählich ein Gespür dafür, was bei seinem Volk als gut galt und was als schlecht. Die Frau eines anderen Mannes zu schwängern, sodass ein anderer Krieger die Nahrung für den eigenen Nac h wuchs erjagen musste, galt als famoser Streich. Beim Stehlen nicht erwischt zu werden war ein Zeichen für Schläue und Gewitztheit. Wer sich des Diebstahls übe r führen oder beim Stehlen ertappen ließ, war ein Narr und konnte weder auf die Nachsicht noch auf das Mitgefühl der anderen hoffen. Wenn ein Mann Taldis, eine Frau und Kinder hatte, dann war er reich und ein Liebling der Götter, und die anderen Mitglieder seines Stammes mus s ten auf seinen Rat hören. Wenn ein Mann hingegen arm war oder seine Taldis oder sein Weib oder seine Kinder kränkelten oder starben, dann galt er entweder als dumm oder von den Göttern verflucht, und es war Zei t verschwendung, ihm zuzuhören.
Dewaras Welt war hart und unversöhnlich, sie en t behrte aller sanfteren Tugenden. Ich konnte die Sitten seines Volkes niemals akzeptieren, aber ich lernte z u mindest, die Welt so zu sehen, wie er sie sah. Nach der harschen Logik der Kidona hatte mein Volk das ihre b e siegt und es gezwungen, sesshaft zu werden. Die Kidona hassten uns dafür, aber ihre Tradition lehrte sie, dass uns das nur gelungen war, weil die Götter uns mehr gewogen waren als ihnen. Deshalb musste unseren Worten Gehör geschenkt werden, da sie als weise zu gelten hatten. En t sprechend geehrt hatte Dewara sich gefühlt, als mein V a ter ihn hatte wissen lassen, er wünsche sich ihn als me i nen Lehrer. Dass er mich dabei schikanieren und mis s handeln durfte, war ebenfalls eine große Ehre für ihn, eine, um die ihn alle seine Stammesbrüder beneiden würden. Dewara hatte den Sohn seines Feindes in seiner Gewalt, er war ihm ausgeliefert, und ich wusste, d ass ich bei ihm nicht mit Nachsicht und Schonung rechnen dur f te. Er freute sich wie ein Kind darüber, dass ich die Ke r be in meinem Ohr, die er mir mit seinem Schwanenhals zugefügt hatte, bis ans Ende meiner Tage mit mir heru m tragen würde.
Er hänselte mich oft, zum Beispiel, indem er sagte, ich sei nicht schlecht für ein gernisches Junges, aber kein gernisches Junges könne jemals so stark werden wie ein kidonischer Plateaubär. Tag für Tag zog er mich damit auf, nicht bösartig, sondern so, wie ein Onkel es vie l leicht tun würde. Die volle Anerkennung meiner Person, nach der ich mich so sehr sehnte, blieb immer knapp a u ßerhalb meiner Reichweite. Ich dachte schon, sie endlich gewinnen zu können, als er mir zeigte, wie man mit e i nem Schwanenhals kämpfte. Er räumte auch widerwillig ein, dass ich ein gewisses Geschick mit der Waffe erlangt hätte, beeilte sich aber rasch hinzuzufügen, dass übles Metall meine »eisenverseuchten« Hände ruiniert habe, sodass ich niemals die Reinheit eines wahren Kriegers erlangen könne.
Ich wollte das nicht unwidersprochen lassen. »Aber ich habe doch selbst gehört«, wandte ich ein, »wie du meinen Vater batest, er möge meinen Unterricht bei dir mit Gewehren bezahlen. Gewehre sind aus Eisen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Dein Vater hat mich zugrunde gerichtet, als er mit einer Eisenkugel auf mich schoss. Dann legte er meine Hände in Eisen, damit meine ganze Magie in mir erlahmte. Sie ist nie ganz zurückg e kehrt. Ich glaube, ein wenig von seinem Eisen ist in mir geblieben.« Dabei schlug er sich mit der flachen Hand auf die Schulter, genau auf die Stelle, von der ich wusste, dass dort einst die Kugel meines
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