Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Brücke auf die sanft gerundete Kuppe des Turms und blieb eine Weile rücklings und mit ausgestreckten Armen dort liegen, um zu Atem zu ko m men. Als ich den Blick zurück zu Dewara wandte, bekam ich einen Schreck, denn ich sah, dass ich erst einen wi n zigen Bruchteil der Strecke zurückgelegt hatte. Dewara stand auf der Klippe und starrte mich an, den Falke n schnabel weit geöffnet. Ungeduldig trat er von einem Bein aufs andere.
»Der Pfad scheint beschwerlich, aber sicher.« Zuerst sprach ich diese Worte in normalem Ton, aber die Luft verschluckte sie. Dann schrie ich sie, und ich sah, dass Dewara den Kopf reckte, als wolle er zum Ausdruck bri n gen, dass er wohl gesehen habe, dass ich etwas gesagt ha t te, aber dass er meine Stimme nicht hören konnte. Dabei schien er gar nicht so weit entfernt von mir zu sein.
Langsam erhob ich mich wieder. Ich war längst nicht ausgeruht, aber ich fühlte mich dazu getrieben weiterz u gehen, als hätte ich nur eine bestimmte Zeitspanne zur Verfügung, in der ich meine Aufgabe erfüllen musste. Ich begutachtete die nächste Brücke. Feine Fäden, g e flochten und ineinander verwoben, bildeten einen sanft schimmernden Pfad. Ich kniete nieder und betastete sie. Es war Haar, Menschenhaar – in allen Farbschattieru n gen, vom schwärzesten Ebenholz bis zum blassesten Goldblond. Vorsichtig drückte ich mit der Hand darauf. Der Pfad schien fest und gediegen. Ich stand auf und trat erneut von der Kuppe aus Stein auf den wundersamen, sanft schwebenden Pfad. Dankbar und erleichtert spürte ich die Festigkeit dieses neuen Pfades unter den Füßen. Nach drei Schritten begann er jedoch so heftig zu schwingen, als stünde ich auf einer Schaukel.
Meine Schwestern hatten immer ein Spiel mit einem Kreisel gespielt, den sie auf einem straff gespannten Seil zwischen sich hatten tanzen und wirbeln lassen. Genau wie dieser Kreisel kam ich mir jetzt vor, nur dass das Seil, das ich überquerte, nicht straff gespannt war. Je weiter ich mich von dem Felsenturm entfernte, desto ti e fer sackte der Pfad unter meinem Gewicht durch. Ich zog meinen Degen und hielt ihn mit beiden Händen quer vor mich wie einen Balancierstab. Das half jedoch nur kurz. Dann b egann die Brücke hin und her zu schwingen wie ein von zwei Mädchen gehaltenes Springseil, wenn es Schwung aufnimmt. Mir wurde schwindlig, aber ich kämpfte mich weiter voran, Zoll für Zoll, jetzt steil »bergauf« auf der tief durchhängenden Matte aus g e flochtenem Haar. Hinter mir schrie Dewara irgendetwas, aber seine Worte kamen wie aus weiter’ Ferne, und ich wagte nicht, mich zu ihm umzudrehen.
Als ich den Rand der zweiten steinernen Kuppe e r reicht hatte, krallte i ich mich mit den Händen an ihm fest und zog mich unter Aufbietung aller Kräfte an ihm hoch. Erschöpft setzte ich mich auf den sandigen Boden und erholte mich von der Anstrengung. Dann wandte ich den Blick zurück zu Dewara, aber er hatte seinen Falkenkopf tief auf die Schultern sinken lassen und kauerte regung s los auf dem Rand der Klippe. In seinen Vogelaugen konnte ich nichts lesen, und seine Arme hingen schlaff herunter. Von ihm war weder Hilfe noch Rat zu erwa r ten.
Ich schaute hinüber zum nächsten Unglücksbringer. Der Pfad, der mich von ihm trennte, war länger als die beiden ersten, die ich bereits überwunden hatte. Überdies sah die Kuppe des nächsten Turms kleiner aus als die der beiden vorausgegangenen, und sogar noch stärker g e wölbt. Die Brücke, die dorthin führte, war ein in sich verwobenes Flechtwerk aus Pflanzen. Winzige weiße Blumen, kleiner noch als der Nagel meines kleinen Fi n gers, blühten dicht auf dem verfilzten Rankenwerk. Mis s trauisch drückte ich mit der Hand dagegen, bevor ich meinen Fuß darauf zu setzen wagte. Die zähen Wurzeln hielten. Als ich mit meinem Degen in das Flechtwerk hineinstocherte, wurde es braun und begann zu schru m peln. Schnell zog ich ihn wieder heraus. Ich hatte nicht die Absicht, den Pfad zu schwächen, indem ich die Pflanzen abtötete. Also steckte ich den Degen wieder zurück in den Gürtel. Dieser Pfad war breiter als die vo r herigen, und die Wurzeln der Pflanzen schienen fest in dem Turm verankert, auf dem ich stand. Sie erinnerten mich an den Efeu, der sich an Baumstämmen oder an Häusern emporrankte.
Als ich mich diesmal auf den Weg machte, war ich e i nigermaßen guten Mutes. Die Brücke trug mein Gewicht mühelos, und obwohl die Pflanzen und ihre zähen Ra n ken unter meinen Füßen knirschten und
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