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Nevare 01 - Die Schamanenbrücke

Titel: Nevare 01 - Die Schamanenbrücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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Bedeutung der Herausforderungen, die sich mir stellten, und deshalb stellten sie auch keine wir k liche Herausforderung für mich dar. In meiner Scham warf ich nicht einmal einen Blick zurück zu D e wara, sondern ging zur nächsten Brücke weiter.
    Diese bestand ganz aus Eis, aber nicht aus dem festen Eis eines zugefrorenen Weihers im tiefen Winter, so n dern aus dem fantastischen Eisblumenglas, das bei grimmiger Kälte ein Fenster in einen Garten aus Farnw e deln verwandelt. Es schien nicht dicker als Fensterglas zu sein, und ich konnte in die tiefblaue Tiefe unter mir hi n durchschauen. Schon nach wenigen Schritten spürte ich die schneidende Kälte, die auf dieser Brücke herrschte, bis tief in die Knochen. Ich horchte auf das knisternde Geräusch von laufenden Sprüngen. Während ich mich behutsam vorwärtsbewegte, zitterte ich, und der Grund unter meinen Füßen war glatt u nd unsicher. Erinneru n gen, die nicht mir gehörten, zitterten rings um mich he r um. Es hatte einmal eine Zeit großer Not und Entbehrung gegeben, eine Zeit, in der die Alten wie die Jungen we g gestorben waren und in der sogar die Starken verzweife l te Entscheidungen hatten treffen müssen, um zu überl e ben. Wäre ich ein richtiger Kidona gewesen, hätte der herzzerreißende Kummer, von dem diese Erinnerungen erfüllt waren, mich in die Knie gezwungen und bitterlich weinen lassen. Aber diese entsetzlichen Dinge waren einem Volk widerfahren, das nicht meines war, zu einer Zeit, die in tiefer Vergangenheit lag. Ich konnte ihnen ihren Kummer nachfühlen und Mitleid mit ihnen em p finden, aber es war nicht mein Kummer. Ich ging weiter, ließ diese Zeit des großen Leids hinter mir und erreichte die Kuppe des nächsten Unglücksbringers.
    Brücke für Brücke, jede davon eine schwere Mutpr o be, war ich eine Etappe weiter auf meinem Zickzackkurs über den Abgrund vorgerückt. Doch als ich vor der näc h sten Brücke stand, kam ich mir plötzlich vor wie ein B e trüger. Machte mich meine fehlende Verwurzelung in der Kidona-Kultur oder mein kaltes Eisen unempfindlich für die Herausforderungen dieser Aufgabe? Ich blickte z u rück zu Dewara. Er kauerte still und fern auf dem Rand der Klippe. Ein Verdacht klopfte mir leise auf die Schu l ter und blies mir einen kalten Hauch in den Nacken. Hoffte er, dass ich es schaffen würde, oder war ich ein Strohmann für irgendeinen unbegreiflichen Plan seines mir so fremden Geistes? Ich stand am Rand der nächsten Brücke und zweifelte plötzlich an allem, was er mir je gesagt hatte. Trotzdem ging ich weiter.
    Diese Brücke war aus Lehmziegeln, alt und massiv. Sie hatte Mauern auf beiden Seiten und Türme in der Mitte und war breit genug, um einem Ochsenkarren Durchlass zu gewähren. Sie schwang nicht, und sie wa c kelte nicht. Auf ihr hätte ich mich eigentlich sicher fü h len müssen, aber stattdessen standen mir die Haare zu Berge – auf dem Kopf, auf den Armen, im Nacken. Auf dieser Brücke spukte es, das stand für mich fest. Die Brücke kündete von einer Zeit, als die Kidona noch G e bäude errichtet hatten, die ganze Generationen überda u erten. Nebelhafte Erinnerungen an lebendige Städte ve r suchten zu mir durchzudringen. Es gelang ihnen nicht. Während ich weiterging, offenbarte sich mir der fortg e schrittene Verfall des Bauwerks. Wind und Regen hatten die Ecken und Kanten der Lehmziegel rundgeschliffen. Risse zogen sich durch die Mauern, die die Brücke ei n fassten. Die Zeit hatte an diesem Bauwerk genagt, hatte die Reliefs, die einst seine Balustraden und Bögen geziert hatten, bröckelig werden lassen und abgetragen. Dieses machtvolle Werk des Kidona-Volkes schwand dahin, Schicht um Schicht roten Staubes, ganz so, wie das Volk der Kidona selbst dahinschwand. Der Zusammenhang wurde mir plötzlich in all seiner schrecklichen Klarheit bewusst: Wenn diese zerfallende Brücke verschwunden war, weggetilgt von Wind und Regen und vom Zahn der Zeit, würde auch das Volk der Kidona verschwunden sein, nicht nur aus dieser Welt, sondern auch aus me i ner.
    Je weiter ich ging, desto offensichtlicher wurde der Verfall. In dem Pflaster unter meinen Füßen klafften Lücken, durch die blauer Abgrund schimmerte. Ich en t deckte dünne Ausläufer von Reben, die sich an den Ma u ern der Brücke entlangrankten. Winzige Blütenpflanzen hatten Heimstatt in den Löchern und Sprüngen und zw i schen den Fugen der im Zerfall begriffenen Ziegel g e funden. Ihre Wurzeln drangen immer weiter in die Risse vor

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