Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
und zersprengten die Ziegel mit ihrer Kraft.
Als ich weiterging, geriet ich in eine merkwürdige Abenddämmerung. Ich drehte mich um. Der lange Nachmittag schien in der Ferne zu verharren. Das warme Licht der Sonne fiel auf Dewaras kauernde Gestalt. Aber um mich herum schwand die Helligkeit. Der Pflanze n bewuchs wurde dichter. Kleine Bäume hatten Wurzel gefasst, und um sie herum wucherte Gras. Ich hörte das Summen und Zirpen von Insekten und roch den Duft der Blüten. Von dem Mauerwerk war immer weniger zu s e hen. Der vordringende Wald hatte es verschluckt, hatte es in Grün gekleidet und eingesponnen. Der Boden unter meinen Füßen wurde immer dichter von Ranken und Kriechpflanzen überwuchert. Sie verschlangen die Türme der Brücke, und ihre züngelnden Ausläufer vereinigten sich über meinem Kopf miteinander. Die Brücke war zu einem Tunnel aus Grün geworden. Der Abendhimmel und die Tiefe unter mir betrachteten mich durch Lücken im Blattwerk.
Irgendwann blieb ich stehen; ich fühlte es mehr, als dass ich es sah: Ich hatte das Ende der Kidona-Brücke erreicht. Jetzt befand ich mich in dem Wald, der sie ei n gesponnen und verschlungen hatte. Er fühlte sich seltsam fremd an, als hätte ich die letzten Spuren einer vertrauten Welt hinter mir gelassen und dränge jetzt in eine Welt ein, die zu betreten ich nicht befugt war. Ein allbeher r schendes Gefühl, etwas Falsches zu tun, d urchzuckte mich. Mein Körper und mein Geist befahlen mir gle i chermaßen, kehrt zu machen. Der Tunnel vor mir strahlte Feindseligkeit aus.
All diese Wahrnehmungen erreichten mich durch e i nen Sinn, für den ich k einen Namen hatte. Ein kühler, süßer Wind wehte; er trug den Duft v on Abendblumen mit sich. In der Ferne hörte ich Vögel singen.
Ich hob den Blick und schaute nach vorn. Im Dä m merlicht am Ende des Tunnels sah ich einen Großvate r baum. Seine knorrigen Wurzeln hangelten und schlänge l ten sich dem Tunnel entgegen und überbrückten den Rest der Schlucht, um sich zu dem Fundament des Pfades zu verdichten, auf dem ich mich jetzt bewegte. Rote Blüten so groß wie Suppenteller lugten aus dem dichten Blat t werk des Baumes hervor. Schmetterlinge umflatterten träge den Wipfel des großblättrigen Baumes, und unter ihm wuchs dichtes Gras. Mit seinem satten Grün lockte es mich: ein Ort der Ruhe und der Erholung. Aber ich betrachtete den Baum mit Argwohn. War dies der letzte Wächter, von dem Dewara gesprochen hatte? Ich fragte mich, ob das lauschige Waldidyll nicht womöglich eine Falle war. Sollte es mich zur Sorglosigkeit verleiten? Wenn ich mich dem Damm aus wucherndem Wurze l werk anvertraute, würde er dann unter mir nachgeben und mich in den Abgrund stürzen lassen?
Ich schaute mir das Geflecht aus lebenden Ranken und Wurzeln, das das letzte Glied auf meinem Weg zum a n deren Ufer bildete, etwas genauer an. Ein Stück von e i nem Schädelknochen, eine gelbbraune beinerne Kuppel, lugte aus dem Moos und dem Rankenwerk hervor. Ein Stück dahinter verschwand eine dünne Wurzelranke in einem Schenkelknochen und trat aus der anderen Seite wieder heraus, als hätte sie das Mark herausgesaugt und sich daran gelabt und gestärkt. Die Knochen waren alt, aber diese Feststellung spendete mir wenig Trost. Ein Stück weiter voraus erspähte ich den rostigen Stumpf eines zerbrochenen Schwanenhalses. Ich drehte mich um und blickte zurück zu Dewara: eine winzige Gestalt am Ende einer grünen Röhre. Er kauerte auf dem Rand der Klippe und beobachtete mich. Ich hob den Arm, um ihn zu grüßen. Er hob den seinen, aber nicht, um den Gruß zu erwidern, sondern um mir zu signalisieren, ich möge we i tergehen.
Ich zog meinen Degen aus dem Gürtel und hielt ihn bereit. Ganz entfernt war ich mir bewusst, wie töricht das war. Wenn ich die Brücke angriff und durchtrennte, hätte ich dann gesiegt? Ich war versucht, erneut zu D e wara zurückzublicken, aber ich war sicher, dass er ein solches Zögern als Feigheit aufgefasst hätte. Würde ich ein K i dona werden oder nicht? Wenn ich die Überqu e rung vollendete, hätte ich dann den Weg für sein Volk wiede r errungen?
Vorsichtig setzte ich einen Fuß auf die Rankenbrücke und prüfte ihre Festigkeit. Sie schwankte nicht und wan k te nicht, sondern trug mich genauso sicher, wie es ihre aus Lehmziegeln gemauerte Vorgängerin getan ha t te. In der geduckten Kriegerhaltung, die Dewara mich gelehrt hatte, bewegte ich mich vorwärts. Dabei versuc h te ich mich so leicht wie möglich
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