Never forget - das Mädchen, das sich nicht erinnern durfte
entkommen.«
Eigentlich sollte ich mich hier in dieser sonnendurchfluteten Bibliothek sicher fühlen, doch stattdessen komme ich mir absolut schutzlos vor. Wie ein Tier, das sich am liebsten in einer dunklen Höhle verkriechen würde. Das Traurige ist, dass mir kein Ort einfällt, an dem ich das Gefühl hätte, sicher zu sein.
Ty zieht einen Schlüsselbund aus der Tasche und fingert an einem der Schlüssel herum. »Ich finde immer noch, ich sollte einfach zurückgehen und nachschauen, ob die Luft rein ist. Und wenn ja, könnte ich mir mein Auto schnappen und wieder hierherkommen.« Er muss wohl gemerkt haben, wie ich ihn anschaue. »Nachdem ich mich vergewissert habe, dass mir niemand folgt, natürlich.«
Beim Gedanken daran, er könnte mich allein zurücklassen, kommt es mir vor, als wäre nicht genug Luft im Raum. »Das ist zu riskant, Ty. Selbst wenn du niemanden siehst – sie könnten eine Art GPS-Tracker an deinem Wagen befestigt haben.«
Verfolgt zu werden, ist allerdings nicht meine größte Angst. Meine größte Angst ist, wieder allein zu sein, mit niemandem reden zu können, niemanden zu haben, der alles mit mir durchdenkt und mich beruhigt. Als ich in der verwüsteten Hütte stand oder über diese dunklen Straßen fuhr – das alles war so viel schlimmer, als ich allein war. Unter dem Tisch greife ich nach Tys Handgelenk, seine Schlüssel klirren. »Außerdem, was ist, wenn du nach Hause gehst, sie dort auf dich warten, dich entführen oder umbringen ? Diese Leute schrecken vor nichts zurück.«
Was ist, wenn Ty weggeht und ich ihn nie wiedersehe? Ich muss meinen Blick von seinen dunklen Augen abwenden, bis ich die Stärke aufbringe, das Richtige zu sagen. »Aber ich finde, du solltest wirklich gehen, Ty. Vielleicht ist es nicht ungefährlich, in deine Wohnung zurückzugehen, aber ganz bestimmt ist es gefährlicher, weiterhin bei mir zu sein. Geh zu einem Freund und bleib dort ein, zwei Tage.« Dieser Junge, den ich noch nicht mal vierundzwanzig Stunden kenne, könnte meinetwegen getötet werden.
»Hör mal, Cady.« Er berührt mein Kinn und dreht mein Gesicht so, dass ich ihm direkt in die Augen schauen muss. »So leicht wirst du mich nicht los. Was meinst du, was wir jetzt tun sollten?«
Ich höre auf mein Bauchgefühl. Ohne meine Erinnerungen ist es das Einzige, was mir noch bleibt. »Ich glaube, ich sollte nach Portland fahren. Dort wohne ich und dort ist meine Familie oder zumindest war sie dort. Wenn ich sie finde, können sie mir vielleicht mehr darüber sagen, was eigentlich vor sich geht. Auch wenn ich sie nicht finde, ist da immer noch das Haus. Mein Zuhause«, verbessere ich mich, auch wenn ich keine Erinnerung mehr daran habe. »In dieser Hütte habe ich keine Hinweise gefunden. Aber vielleicht gibt es bei mir zu Hause welche.«
Da Tys Auto jetzt aus dem Rennen ist, bleiben nicht mehr viele Möglichkeiten, von hier wegzukommen. Er schlägt vor, per Anhalter zu fahren, aber vor meinem geistigen Auge ziehen zu viele Bilder auf: Wir sind in einem Auto gefangen, die Türen lassen sich nicht öffnen und hinter dem Steuer sitzt ein durchgeknallter Killer. Oder in diesem Fall einer der Männer, die mich jagen. Bestimmt stammen diese Bilder aus irgendwelchen Filmen oder ich verbinde sie mit dem, was Officer Dillow passiert ist. Wenn ich mir vorstelle, wie wir uns an den Straßenrand stellen und die Daumen rausstrecken, kommt es mir vor, als wären wir Lämmer, die zur Schlachtbank trampen wollten.
Bleiben die Greyhound-Busse. Der Busbahnhof ist drei Kilometer entfernt. Ty entscheidet sich für den Weg über die Straße, die parallel zur Hauptstraße verläuft. Sie ist nicht superbelebt und wir werden nicht von jedem vorbeifahrenden Fahrzeug aus gemustert. Aber leer ist sie auch nicht, deshalb fallen wir nicht auf – nur zwei Jungs, die mitten an einem Schultag herumlaufen.
Die Luft ist frisch und kühl, aber wir gehen so schnell, dass mir nicht kalt wird in meinem Kapuzenpullover. Wir steuern auf eine hohe, abgerundete Erhebung zu, die mitten im ansonsten flachen Bend aufragt. Es ist kein Berg, aber es ist um einiges größer als ein Hügel. »Was ist das?«, frage ich Ty. Die Erhebung ist mit graugrünem Wacholder und Salbei bedeckt und ich würde schätzen, dass sie um die hundertfünfzig Meter hoch ist. Ein stetiger Strom aus Spaziergängern und Joggern bewegt sich nach oben und unten auf dem Weg, der sich spiralförmig hinaufwindet.
»Ein alter Aschenkegel«, sagt Ty. »Von einem
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