Never Knowing - Endlose Angst
nach der Begegnung in der Werkstatt über Facebook eine Nachricht geschickt. Ein Mann, der so gut aussah wie er und außerdem noch eine Lodge besaß, musste einfach bluffen, also ließ ich ihn abblitzen. Doch er schickte mir weiterhin kurze Nachrichten wie »Wie war dein Tag?« und so, erkundigte sich nach meiner Arbeit und meiner Tochter, kommentierte meine Status-Updates. Da ich in ihm keinen potentiellen Partner sah, konnte ich ihm von meinen Problemen erzählen, meinen Ängsten, meinem zynischen Blick auf Männer und Beziehungen, kurz, alles, was mir so durch den Kopf ging.
Eines Nachts chatteten wir über MSN bis drei Uhr morgens, tranken Wein, bis wir, jeder bei sich zu Hause, halb besoffen waren. Am nächsten Tag schickte er mir einen Link zu seinem Lieblings-Lovesong – Colin James’ »These Arms of Mine« –, den ich unzählige Male hintereinander anhörte.
Nachdem wir einen Monat lang nur online Kontakt hatten, willigte ich schließlich ein, mich mit ihm zu treffen, zu einem Spaziergang mit Elch im Park. Die Stunden verstrichen ohne einen Moment der Angst, nur mit Lachen und dem wunderschönen Gefühl, sicher zu sein und gleichzeitig ich selbst sein zu dürfen. Als er ein paar Monate später Ally kennenlernte, vergötterten die beiden einander vom ersten Moment an. Selbst das Zusammenziehen war einfach: Wenn einem von uns ein Haushaltsgegenstand fehlte, hatte ihn der andere. Trotzdem brach ich in der ersten Zeit oft einen Streit vom Zaun, stieß ihn weg, stellte seine Loyalität auf die Probe. Ich hatte solche Angst, erneut verletzt zu werden, solche Angst, mich selbst zu vergessen, wie es mir bei Derek passiert war, und vor dem, was dann geschehen würde.
Als Kind war ich oft wütend gewesen, aber ich hatte es immer heruntergeschluckt. Wahrscheinlich war ich als Teenager deswegen so oft deprimiert. Erst als ich anfing, mit Jungs auszugehen, begann ich, meinem Zorn freien Lauf zu lassen. Doch ich schaffte es immer, nie weiter als bis zu einem bestimmten Punkt zu gehen – bis zu diesem Augenblick mit Derek auf der Treppe. Als er mir sagte, er habe die Nacht mit seiner Ex verbracht, empfand ich nichts als Scham. Ich konnte nur noch daran denken, dass jetzt alle glauben würden, ich sei nicht gut genug. Da streckte ich einfach die Arme aus, und er fiel.
Hinterher war ich schockiert und entsetzt über das, was ich getan hatte, und noch mehr über das Gefühl von Macht, das ich dabei verspürt hatte. Es jagte mir Angst ein – dieses Gefühl, dass in mir etwas Finsteres lauerte, etwas, das ich nicht kontrollieren konnte. Und ich wollte glauben, was Sie sagten, dass es derselbe Auslöser war wie immer: Verlustängste, Vertrauensverlust, geringes Selbstwertgefühl, all das. Aber jetzt wissen wir, dass ein Elternteil von mir gewalttätig ist,
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als gewalttätig. Es sieht aus, als hätte ich allen Grund, mich zu fürchten.
Heute Morgen war ich in der Werkstatt und habe die Mahagonitruhe abgeschliffen und versucht, alles zu vergessen. Für ein paar Stunden hat es funktioniert. Dann schnitt ich mir in den Finger. Als etwas Blut heraussickerte, dachte ich:
In mir fließt das Blut eines Mörders.
3. Sitzung
Okay, ich bin wütend und durcheinander. Ich stehe so unter Stress, dass ich mir am liebsten einen Baseballschläger schnappen und auf irgendetwas einprügeln würde. Kaum zu glauben, dass es schon über einen Monat her ist, seit ich das letzte Mal hier war. Ich habe das ganze Wochenende diese Traumreisen gemacht, die Sie mir beigebracht haben. Habe mir ausgemalt, wie das Leben aussähe, wenn ich mir keine Sorgen um meine Familie oder Gene machen würde, was ich dann mit meiner Zeit anfinge. Ich versuchte mir vorzustellen, ich würde mich ganz leicht und glücklich fühlen, während ich mir Hochzeitsdekorationen und Einladungen anschaute. Aber ich konnte einfach nicht aufhören, an den Campsite-Killer zu denken – wo er war, wer er war. Ich ging sogar noch einmal auf diese Website und sah mir die Bilder der Opfer an. Immer wieder wanderten meine Gedanken zu Julia. Hatte sie meine Nachricht bekommen? Hasste sie mich? Am Montag bekam ich meine Antwort.
Ich war draußen in der Werkstatt, schrubbte Lack von meinen Fingern, während Stevie Nicks »Sometimes it’s a bitch …« schmetterte, als ich das Telefon hörte. Ich wühlte mich in dem Berg aus Werkzeug und Zubehör auf meiner Werkbank zu einem Stapel Lumpen durch, unter denen das schnurlose Telefon steckte. Die Nummer wurde nicht
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