Never tell a lie - Lügen können töten - Psychothriller
tragen, war eine offene Kriegserklärung - schloss Ivy, dass der Kerl nicht im Begriff war, dem Tier über den Kopf zu streicheln und ihm einen Hundekuchen zu geben.
Kaum hatte der Mann Ivy entdeckt, fing er auch schon an zu brüllen. »Ihr verdammter Hund wäre fast unter die Räder gekommen. Passen Sie gefälligst auf!«
»Der Hund gehört mir nicht. Und Sie brauchen nicht so zu schreien«, antwortete Ivy.
Vorsichtig ging sie auf Phoebe zu. Als sie nur noch anderthalb Meter von ihr entfernt war, beugte sie sich vor - sich hinzukauern war in ihrem gegenwärtigen Zustand
nicht möglich - und streckte die Hand aus. »Pscht, ist ja gut. Ich bin eine Freundin, erinnerst du dich an mich?«
Ivy hatte keine Ahnung, ob das die richtige Art war, sich einem verstörten Hund zu nähern, aber es schien zu funktionieren. Phoebes Ohren hoben sich ein wenig - vielleicht aufgrund ihrer Verwirrung, weil es auf einmal zwei Angriffsziele gab.
»Guter Hund, braves Hündchen«, säuselte Ivy und rückte noch ein wenig näher. Die Hündin fiepte und winselte und wich mit eingezogenem Schwanz zurück.
Ivy streckte ihr die Hand entgegen. »Komm her, Phoebe.« Als es seinen Namen hörte, duckte sich das Tier, und seine Ohren hoben sich ein wenig mehr. »Braves Mädchen.«
Phoebe kam langsam auf Ivy zu, schnüffelte und leckte ihr schließlich die Hand. Dann ließ sie sich mit einem Mal einfach fallen.
Ivy packte sie am Halsband und zog sie von der Straße.
Phoebe winselte. Das arme Tier wog mindestens vierzig Pfund und zitterte am ganzen Leib. Das Fell über ihren ausdrucksvollen braunen Augen war vor Verzweiflung gesträubt, und sie blies Ivy heißen Hundeatem ins Gesicht.
»Idiotin!«, schimpfte der Mann und schüttelte empört den Kopf. »Schaffen Sie sich eine Leine an.« Mit quietschenden Reifen fuhr er davon.
»Nimm dich selbst an die Leine«, knurrte Ivy. »Oder schaff dir besser noch einen Maulkorb an.«
Ivy streichelte Phoebes Kopf und versuchte, das zitternde Tier zu beruhigen. Sie konnte sich nicht erinnern, Phoebe jemals allein draußen gesehen zu haben. Wo war Mrs Bindel?
Sie zog Phoebe zur Haustür ihrer Nachbarin, klingelte und wartete. Keine Antwort. Sie klopfte. Wieder nichts.
Vielleicht war sie ja im Garten hinter dem Haus. Ivy trug die Hündin von der vorderen Veranda herunter. Als sie das Haus halb umrundet hatten, fing das Tier an zu bellen, befreite sich zappelnd aus Ivys Armen und rannte jaulend davon.
Ivy lief hinterher. Mrs Bindels Forsythien, Quitten und Rhododendronbüsche hinter dem Haus waren zu perfekten Kugeln geschnitten. Ivy tauchte unter der altmodischen Wäscheleine hindurch, die über den gemähten Rasen gespannt war. Kein Gänseblümchen hätte es gewagt, den Kopf aus diesem Rasen zu strecken.
Phoebe rannte knurrend und schniefend zu der Betontreppe vor Mrs Bindels Hintertür und ließ sich schnüffelnd ins Gras fallen. Die alte Frau lag mit dem Kopf auf der untersten Treppenstufe auf dem Rasen und sah sehr klein und zerbrechlich aus.
Ivy rannte zu der liegenden Gestalt. Schwindel erfasste sie, als sie sah, in welchem grotesken Winkel Mrs Bindels Kopf auf der Treppe lag. Sie sah aus wie eine Puppe, der man den Kopf nach hinten gedreht hatte.
Ivy zwang sich, sich zu bücken und die Fingerspitzen gegen Mrs Bindels Hals zu drücken. Die Haut fühlte sich an wie Papier, aber sie war kühl und nicht kalt. Das Gesicht ihrer Nachbarin war feucht, obwohl der Nieselregen
aufgehört hatte, und es war eindeutig ein Pulsschlag zu fühlen.
Erleichtert stellte Ivy fest, dass Mrs Bindels Kopf nicht wirklich verdreht war. Nur die Perücke war seitwärts verrutscht und verdeckte einen Teil ihres Gesichts.
Behutsam zog Ivy die Perücke hoch. Auf Mrs Bindels Schädel sprossen nur ein paar dünne weiße Haarsträhnen, und ein Bluterguss hob sich dunkelviolett von der hellen Kopfhaut ab. Ihr blasses Gesicht sah fast aus wie das eines schlafenden Babys.
Ivy setzte ihr die Perücke wieder ordentlich auf. Ihre Nachbarin wäre todunglücklich, wenn fremde Menschen sie ohne sie sehen würden, selbst wenn es sich nur um die Sanitäter handelte.
Sie musste einen Krankenwagen rufen, aber ihr Handy lag in ihrem Auto. Als sich aufrichtete, fiepte Phoebe und sprang ebenfalls auf.
»Sitz, Phoebe!« Zu ihrer Überraschung gehorchte die Hündin. »Braves Mädchen. Warte hier.«
Phoebe schnaubte und legte sich neben ihr Frauchen, den Kopf auf den Pfoten.
In diesem Augenblick bemerkte Ivy den Geruch. Schon wieder.
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