Neville, Katherine - Der magische Zirkel
Fäden in der Wunde?» «Mein Arzttermin war gestern vormittag», sagte ich und holte
tief Luft, um den stechenden Schmerz zu unterdrücken. «Aber da waren wir schon in Utah.»
«Wenn du einen Ton gesagt hättest, hätten wir noch in Wien zu einem Arzt gehen können», sagte er. «Die Fäden müssen unbedingt entfernt werden. Auch wenn sie sich auflösen, kann sich die Wunde entzünden. Aber jetzt ist bis zu unserem Abflug nach Rußland nur noch so wenig Zeit… Soll ich dir die Fäden ziehen?»
«Du?» Ich starrte ihn entsetzt an.
«Jetzt müßtest du dein Gesicht sehen», sagte er lachend. «Ich habe alles hier, was w ir brauchen: Desinfektionsmittel, Heilsalbe, Pinzette, Schere. Es ist wirklich eine ganz simple Sache. Im Internat habe ich in der Krankenstation geholfen, und Jungen haben immer wieder mal Platzwunden, die genäht werden müssen. Ich versichere dir, ich habe so etwas schon hundertmal gemacht. Jetzt hole ich erst einmal unsere Sachen aus dem Wagen, damit wir uns nachher nicht mehr darum zu kümmern brauchen.»
Er öffnete einen Kleiderschrank und nahm einen dicken weichen Bademantel heraus. «Zieh den hier an, damit du deine Sachen nicht ruinierst», sagte er. «Und dann warte auf mich in der Bibliothek. Da ist es inzwischen schön warm, und das Licht ist dort besser.» Damit verschwand er.
Es war mir nicht klar, was ich von diesem Abend erwartet hatte – aber Ich liebe deine Großmutter, gefolgt von Soll ich dir die Fäden ziehen? war bestimmt nicht die Richtung, in der ich mir den weiteren Verlauf vorgestellt hatte.
Ich ging in Wolfgangs Badezimmer, zog mein warmes Musselinkleid aus und sah mir im Spiegel die lilafarbene Wunde an, die sich mit vierzehn spinnenähnlichen schwarzen Stichen vom Ellbogen bis zur Schulter zog. Meine Augenlider waren geschwollen, und meine Nase war rot von den Tränen, die mir der Schmerz in die Augen getrieben hatte. Ich war ein Wrack. Ich nahm eine Bürste und fuhr mir damit einige Male durchs Haar. Dann wusch ich mir das Gesicht, schlüpfte in den flauschigen Bademantel und ging nach unten.
Als ich in die Bibliothek kam, prasselte ein munteres Feuer im Kamin, und es roch nach Tannenzapfen. Ich trat an den offenen Biedermeiersekretär und strich mit den Fingern über die dort gestapelten Bücher, wobei mir eines mit Goldschnitt und wundervoll weichem Ledereinband in nahezu dem gleichen Cremegelb wie das Ledersofa besonders auffiel. Offensichtlich war es ein altes und seltenes Buch. Ein Lesezeichen lag dann. Ich zog das Buch aus dem Stapel und schlug es auf. Die erste Seite war mit dem Titel illuminiert:
Legenda Aurea
Die goldene Legende: Lesungen über die Heiligen von Jacobus de Voragine
Den Text begleiteten schauerliche, aber schön vergoldete Bilder, auf denen Männer und Frauen in verschiedenen Stadien der Folter oder Kreuzigung zu sehen waren. Ich wandte mich der Stelle zu, wo das Lesezeichen eingelegt war: Heiliger Nummer 146, Sankt Hieronymus. Das war der Namenspatron des Mannes, den ich bis heute für meinen Großvater väterlicherseits gehalten hatte.
Abgesehen davon, daß dieser gelehrteste der lateinischen Kirchenväter, der vor 1500 Jahren lebte, wegen seines umfangreichen literarischen Werks und besonders wegen seiner Neuübersetzung des Alten Testaments aus dem hebräischen Berühmtheit genoß, war er auch der Mann, der die Pfote eines verwundeten Löwen heilte. Irgendwie erinnerte mich das an etwas, was Dacian im Lauf des heutigen Tages gesagt hatte, aber es wollte mir im Moment nicht einfallen.
Dann kam auch schon Wolfgang mit einem Tablett, beladen mit Medikamenten, Chirurgenbesteck in Desinfektionslösung, einer Flasche Cognac und einem Cognacschwenker. Über dem Arm trug er mehrere Handtücher. Er stellte das Tablett auf dem niedrigen Tisch vor dem Sofa ab, auf dem ich mich niedergelassen hatte. Ich legte das Buch beiseite. Als Wolfgang sah, womit ich mich beschäftigt hatte, sagte er lächelnd: «Aufbauende Lektüre, nicht wahr? Aber ganz so schlimm wird es nicht.»
Er zog eine Stehlampe näher zum Sofa, breitete einige Handtücher über die Kissen und setzte sich neben mich. Ein kurzer Ruck am Gürtel des Bademantels, und die flauschige Hülle, praktisch die einzige, die ich trug, fiel auseinander und ich saß da in meiner knappen Unterwäsche. Nach einem Blick auf mein Gesicht sagte er mit einer Grimasse: «Soll ich mit geschlossenen Augen weitermachen?»
Er zog meinen Arm aus dem Bademantel und bedeckte diskret den entblößten
Weitere Kostenlose Bücher