Neville, Katherine - Der magische Zirkel
er das Blut sah, das mir über das Gesicht lief.
«Ich lebe. Es ist nichts gebrochen», rief ich in den tosenden Lärm, während wir nebeneinander dahinjagten, um der Lawine zu entkommen. «Sind Sie okay?»
«Ich bin okay», schrie er zurück. «Ich bin besser gelandet als Sie. Die ganze Rinne kommt herunter – nicht einmal die Bäume konnten den Schnee aufhalten. Wenn wir nicht gesprungen wären, wären wir zwischen zwei Lawinen geraten.»
«Heilige Scheiße!» sagte ich und warf kurz einen Blick zu ihm hinüber. Er lachte und schüttelte den Kopf.
«Sie sagen es», rief er.
Am anderen Ende der Schlucht ragte eine weitere Felswand in die Höhe, zu der jedoch eine im Bogen verlaufende Rampe hinaufführte. Wir hasteten im Grätenschritt hinauf. Auf halber Höhe blieb Wolfgang stehen. Er legte seine behandschuhte Hand auf meine Schulter und nickte stumm in die Richtung der Schlucht, durch die wir heruntergekommen waren. Mir war schon ein wenig schwindelig durch den Blutverlust; aber als ich zurückblickte, wurde mir übel. Ich ging in die Hocke und umschlang meine Knöchel.
Das ganze Tal war verschwunden. Das Meer aus schwarzen Steinen, durch das wir gerade gefahren waren, gab es nicht mehr. Die tiefe Schlucht war fast bis zum Rand mit schmutzigem, weißem Schutt gefüllt, aus dem Wurzeln und Äste in den Himmel ragten. Der Felsvorsprung, von dem wir abgesprungen waren, lag vielleicht noch zwei Meter über dem, was jetzt als Talboden sichtbar war.
Wolfgang strich mir über das Haar, als ich vor Entsetzen schauderte.
Wir schauten zu, wie der letzte Schnee vom Rand der Schlucht rieselte, und sahen den seiner weißen Decke beraubten dunklen Hang dahinter, wo noch immer vereinzelt Steine in die Tiefe rollten. Es war ein Anblick vollkommener Verwüstung – und das alles war in weniger als zehn Minuten geschehen. Ich brach in Tränen aus. Wolfgang zog mich auf die Beine, legte die Arme um mich und streichelte mich, bis ich aufhörte zu schluchzen. Dann ließ er mich los, wischte mir mit seinem Handschuh Blut und Tränen aus dem Gesicht und küßte mich leicht auf die Stirn, wie man ein verängstigtes Kind zu beruhigen versucht.
«Wir wollen Sie schleunigst verarzten. Sie sind ein kostbares Wesen», sagte er lächelnd. Aber die nächsten Worte des zärtlichen Dr. Hauser erschreckten mich.
«Sie sind mehr als kostbar, meine Liebe, und ganz erstaunlich», sagte er. «Einer Lawine auf Skiern davonzufahren mitsamt einem Manuskript auf dem Rücken!» Und als ich ihn entsetzt anstarrte, fügte er hinzu: «Oh, ich muß es nicht sehen, um zu wissen, was es ist. Ich bin Ihnen auf den Berg gefolgt, um sicherzugehen, daß Sie es nicht verstecken oder verlieren. Wenn es das Runenmanuskript ist, was ich glaube, dann gehört es mir. Ich selbst habe es Ihnen zugeschickt.»
Matrix, die; spätlateinisch matrix (Gen.: matricis) = öffentliches Verzeichnis, Stammrolle, eigtl. = Gebärmutter.
D EUTSCHES U NIVERSAL W ÖRTERBUCH
In ihr [der Tragödie] haben wir, wiedergeboren aus der Musik, den tragischen Mythos – und in ihm dürft ihr alles hoffen und das Schmerzlichste vergessen!
F RIEDRICH N IETZSCHE
Alle Erstgeburt ist mein.
2. M OSE ; 34,19
Jeder kann einen Fehler machen, aber was ich mir hier geleistet hatte, war ein echter Hammer. Es war alles meine Schuld. Ich hatte die falschen Schlüsse gezogen.
Sam hatte nichts von Runen gesagt – nicht einmal, daß es sich bei dem, was er mir geschickt hatte, um ein Manuskript handelte. Er sagte nur, daß es die Größe von einem Packen Papier habe. An einem einzigen Tag h atte ich meinen Hausherrn beinahe überfahren, war durch zwei Staaten geflohen und wäre beinahe von einer Lawine verschüttet worden, während ich mit einem hinreißenden österreichischen Wissenschaftler schäkerte. Und alles wegen des falschen Pakets. Ich versprach Gott, weniger zu flirten, wenn er mir keine so krummen Dinger mehr in den Weg legen würde. Aber das löste mein neues Problem auch nicht: Das Paket von Sam war immer noch nicht da. Und vielleicht gab es – dank meiner Überreaktion – auch Sam nicht mehr.
Während ich zerschunden und blutend mit Wolfgang ins Tal fuhr, versuchte er, mich über das Runenmanuskript, das er mir geschickt hatte, aufzuklären. Er hatte mir das Manuskript sofort nach seiner Ankunft in Idaho aushändigen wollen. Weil ich jedoch wegen Sams Beerdigung längere Zeit fort war und er geschäftliche Verpflichtungen außerhalb der Stadt hatte, schickte er mir die Runen
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