Neville, Katherine - Der magische Zirkel
ich erkannte, daß er einer großen Rinne voll von feinstem Pulverschnee zustrebte – ein Schnee, der jedes Jahr Tausende von Touristen anlockte. Die Rinne lag am anderen Ende des Waldes. Ich hatte diese Abfahrt in all den Jahren, in denen ich hier Ski lief, gemieden wie die Pest.
Tiefschneefahren verlangt eine völlig andere Technik als Pistenfahren. Man lehnt sich nach hinten wie in einem Schaukelstuhl, damit die Skispitzen nach oben gedrückt werden und nicht im Schnee steckenbleiben. Man braucht dazu eine ungeheure Flexibilität in den Knien und sehr viel Kraft in den Schenkeln. Wenn sich die Skispitzen festfahren, wenn man stehenbleibt oder verkantet und hinfällt, fängt man an zu sinken.
Weil ich nie diesen besonderen Rhythmus gefunden hatte, fühlte ich mich im tiefen Pulverschnee vollkommen hilflos. Ich haßte ihn. Und nun hatte ich auch noch den Rucksack auf dem Rücken.
Deshalb bog ich vor dem Pappelwald ab, um weiter unten auf die Piste zurückzukehren. Und da passierte es.
Ich hatte den Waldrand erreicht, als ich merkte, daß etwas nicht stimmte.
Ich fühlte es, bevor ich etwas hörte, und dann war es kein lautes Geräusch, eher ein Flüstern, als ob die Erde einen langen, zitternden Seufzer aushauchte. Ich glaube, meine Handflächen, die in den warmen Handschuhen plötzlich zu prickeln begannen, nahmen es eher wahr als mein Gehirn. Als ich begriff, was geschah, erkannte ich auch, daß ich keine Ahnung hatte, was ich tun sollte.
Der Boden unter mir bewegte sich – nicht der Boden selbst, sondern der Schnee! Der Berg warf seine Haut ab. Er riß sie sich ab. Mit einem einzigen brutalen Ruck trennte er sich von der eineinhalb Meter dicken Schneedecke, die sich im Lauf des Winters angehäuft hatte. Ich war in einer Lawine.
Und dann setzte der Lärm ein – zuerst ein Grummeln, das rasch zu einem dröhnenden Donnern anschwoll, als der Schnee immer schneller rutschte und sich übereinanderschob und Steine und Felsbrocken rings um mich den Hang heruntergeschleudert wurden. Ich fuhr am Waldrand entlang, aber ich wußte immer noch nicht, ob ich mein Heil im Wald suchen sollte, wo ich riskierte, daß ein Baum auf mich stürzte, oder hier draußen auf dem Hang, wo der schwere Schnee wie eine Riesenladung Zement herunterkam.
Mein Mund war völlig trocken vor Angst. Meine Hände wurden gefühllos. Bloß nicht ohnmächtig werden! Und dann dachte ich, es wäre vielleicht besser, ohnmächtig zu sein, wenn ich von der Wucht der Lawine getroffen und untergehen würde. Ich fuhr schnell, aber ich wußte, der Schnee war schneller. Links von mir, auf dem offenen Hang flogen Felsbrocken wie Gummibälle durch die Luft. Rechts, aus dem Augenwinkel, sah ich entwurzelte Bäume fliegen. Die Lawine war ein lebendiges, atmendes Ding, das wie das Ungeheuer im Snake River alles verschlang, was ihm in den Rachen kam.
Ich konnte ihr nicht entkommen. Ich war keine Rennläuferin, und schon bessere Skifahrer als ich hatten vergebens versucht, einer Lawine davonzufahren. Um meinen Hintern zu retten, fiel mir nichts anderes ein, als auf den Beinen zu bleiben und mit der Lawine zu fahren – und das so lange, bis sie genug Masse und Geschwindigkeit hatte, um mich zu überrollen. Und immer noch hatte ich den verdammten Rucksack auf dem Buckel.
In dieser Sekunde zuckten zwei Gedanken durch meinen Kopf. Der erste war, daß ich in Kürze das untere Ende des Waldes erreichen würde, der mich von dem Pulverschneebecken am Fuß des Hangs, wo die Mulde auslief, trennte – und der zweite: Was war aus dieser Mulde geworden? Und nachdem sich Pulverschnee rascher bewegte als fester Schnee – was war aus Wolfgang Hauser geworden?
Beide Fragen wurden gleichzeitig beantwortet. Unten sah ich die Stelle, wo die Schnee- und Geröllmassen
des Pistenhangs zu meiner Linken und des Pulverschneetrogs zu meiner Rechten in einem Kessel aufeinandertrafen und der Schnee durch den Aufprall wie ein wirbelnder Trichter in den Himmel stob.
Meine überanstrengten Beine taten mir so weh – ich hätte schreien können! Jede Sehne schien mir zuzurufen: Halt an! Aber ich wußte, jetzt anzuhalten würde den sicheren Tod bedeuten. Dann sah ich rechts eine schwarze Gestalt zwischen den Bäumen. Obwohl der Schnee unablässig den Hang herunterwirbelte und Bäume umriß, steuerte Wolfgang auf mich zu.
«Ariel!» brüllte er über den Lärm hinweg. «Springen Sie! Sie müssen springen!» Ich sah mich verzweifelt um und versuchte zu sehen, was er meinte – und dann
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