Neville, Katherine - Der magische Zirkel
«Schafwiese», wo im Sommer Zelte errichtet wurden für Musikveranstaltungen und Ausstellungen. Im Winter war es ein beliebtes Langlauf gebiet – ein flaches, offenes Gelände, das von der Straße aus leicht zu erreichen war. Das mußte der neue Ort für mein Rendezvous mit Sam sein.
Aber es erschien mir sehr merkwürdig, daß Sam sein früheres kompliziertes, Spuren verwischendes Szenario zugunsten einer gut sichtbaren Stelle neben der Hauptstraße aufgegeben hatte – allerdings nur, bis ich Kapitel 2, Vers 17 gelesen hatte, wo der Zeitpunkt unseres Treffens angegeben war.
Bis der Tag kühl wird und die Schatten schwinden, wende dich her gleich einer Gazelle, oder gleich einem jungen Hirsch auf den Balsambergen.
Noch vor Tagesanbruch? Wenn die Schatten schwinden? Ich verstand durchaus, warum Sam eine Begegnung mitten am Tag für zu auffällig hielt. Und die Skilifte, mit denen wir unseren ursprünglich vereinbarten Treffpunkt hätten ansteuern müssen, fuhren erst ab neun Uhr. Aber wie konnte ich auffällig vor Sonnenaufgang drei Meilen zur Schafwiese fahren, meine Langlaufskier aus dem Wagen holen und mutterseelenallein in der Dunkelheit auf eine Loipentour gehen? Hatte Sam den Verstand verloren?
Glücklicherweise wollten an diesem Abend alle, mit denen ich hier im Hotel zusammen war, früh schlafen gehen. Olivier hatte sich anscheinend übernommen bei dem Versuch, Bambi zu beeindrucken. Als er festgestellt hatte, wie gut sie Ski fahren konnte, hatte er sie auf sämtliche schwarzen Pisten geschleppt und war nach so viel ungewohnter Höchstleistung erschöpft.
Nachdem Bambi den ganzen Tag auf Skiern unterwegs war, blieben ihr und Laf für das tägliche Üben, das Musiker brauchen, nur zwei Stunden vor dem Abendessen. Die Hotelleitung überließ uns den Sun-Room mit dem Klavier. Laf spielte so schön wie eh und je. Und Bambi verblüffte uns alle mit einer Virtuosität, die man selten außerhalb eines Konzertsaales hört. Ich mußte ihr mehr als nur einen guten Griff mit den Schenkeln zugestehen.
Als wir den Raum verließen, um zum Abendessen zu gehen, standen draußen auf dem Balkon zahlreiche Hotelgäste, die zugehört hatten und nun begeistert applaudierten. Laf wurde mit Komplimenten überschüttet und mußte auf Speisekarten, hoteleigenen Briefumschlägen und sogar auf Liftkarten Autogramme geben.
«Gavroche», sagte Laf, als sich die Gäste schließlich zerstreut hatten,
«ich denke, ich werde heute abend allein auf meinem Zimmer essen und euch junge Leute euch selbst überlassen. Ich bin nicht mehr so fit wie früher. Wir sehen uns morgen beim Frühstück. Dann kann ich noch ein bißchen aus dem Nähkästchen plaudern.»
«Okay, Onkel Laf», sagte ich und dachte, daß ich noch mehr aus diesem «Nähkästchen» wahrscheinlich kaum ertragen würde. «Aber nicht zu früh, bitte. Sagen wir lieber zum Brunch. Ich muß morgen früh noch etwas erledigen.»
Bambi lehnte es ab, sich Olivier und mir anzuschließen, und zog sich mit Laf und Volga zurück. Und als ich in den Speisesaal gehen wollte, überraschte mich Olivier, indem er sich ebenfalls vom Dinner abmeldete.
«Ich muß gestehen», sagte er, «daß mir alles weh tut. Ich denke, ich springe in den Pool, solange er noch geöffnet ist. Und nach einem warmen Süppchen auf meinem Zimmer werde ich mich aufs Ohr legen.»
Bis um elf hatte ich mir mit Jason eine Pasta mit Meeresfrüchten und Knoblauchbrot geteilt, den Wetterbericht gehört, so daß ich wußte, daß morgen um sechs Uhr dreißig die Sonne aufgehen würde, und wir lagen beide im Bett. Ich las noch ein bißchen und trank den Rest meines Weins aus, und als ich das Licht ausmachen wollte, tauchte plötzlich Jasons Kopf hinter dem Kissen auf, wo er sich zusammengerollt hatte. Er spitzte die Ohren und schaute zur Tür, als erwartete er, daß jemand hereinkommt. Er sah mich kurz an, aber ich hatte nichts gehört. Lautlos sprang er auf den Boden und lief über den weichen Teppich zur Tür, wo er wieder den Kopf wandte, um mich anzusehen. Dort draußen war jemand. Mein Herz begann laut zu klopfen. Ich holte tief Luft, stand auf und zog den Morgenrock an, der auf einem Stuhl in der Nähe des Bettes lag, und ging zur Tür. Jason stand gespannt neben mir. Er irrte sich nie, wenn Besuch vor der Tür stand. Andererseits, wenn mich jemand besuchen wollte – warum tat er es nicht?
Ich hielt ein Auge an das Guckloch und sah ein bekanntes Gesicht, das mich dennoch überraschte. Ich packte den Türknauf
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