Neville, Katherine - Der magische Zirkel
Österreich – »
«Natürlich – Nürnberg!» Erst in diesem Moment erinnerte ich mich plötzlich wieder an die Bilder aus Filmen. Dies führte zu einer weiteren Frage.
Die Cognacflasche war fast leer. Weil ich nicht wollte, daß Bambi schlappmachte, bevor ich erfahren hatte, was ich wissen wollte, goß ich den letzten Rest in mein Glas.
«Warum brachte Hitler die Gegenstände ausgerechnet nach Nürnberg? Warum hielt er gerade dort seine Parteitage ab?» fragte ich.
Bambi sah mich mit großen Augen an, die schon ein wenig glasig wirkten. «Nürnberg ist die Achse», sagte sie. «Wußten Sie das nicht?»
«Die Achse? Sie meinen, wo sich die Achsenmächte während des Kriegs getroffen haben? Ich dachte, sie hätten sich gewöhnlich in Rom, Wien oder Berlin getroffen.»
«Ich meine, es ist die Achse», erwiderte sie. «Die Weltachse, die Stelle, von der man annimmt, daß dort alle geomantischen Kraftlinien zusammenlaufen. Der alte Name der Stadt war Nornenberg – Berg der Nornen. Es heißt, daß die drei Nornen, die Schicksalsgöttinnen Urd, Werdandi und Skuld, von denen die erste die Vergangenheit, die zweite die Gegenwart und die dritte die Zukunft kannte, seit Urzeiten in diesem Berg wohnen. Sie spinnen den Schicksalsfaden und weben die Geschichte unseres Schicksals zu einem Gewebe aus Runen. Diese Frauen bestimmen wie Richter über Leben und Tod, und die Geschichte, die sie schreiben, wird das Schicksal der Welt in den letzten Tagen, der Götterdämmerung, entscheiden. Es ist die Geschichte von den Ereignissen am Ende der Zeit.»
Vielleicht war es naiv zu glauben, ich könnte die Knoten eines so verschlungenen Labyrinths lösen, indem ich versuchte, meine familiären Beziehungen aufzudröseln. Aber meine nächsten Verwandten schienen tatsächlich bis zum Hals in diesem nationalsozialistischen mythologisch-kosmischen Sumpf zu stecken.
Es überraschte mich nicht, daß jemand wie Bambi, die für mich eine Fremde war, so viele widerwärtige Dinge über meine Familie wußte, von denen ich selbst keine Ahnung hatte. Schließlich hatte ich mein Leben lang versucht, mich von dieser Familie fernzuhalten. Wie es jetzt aussah, hatte ich, wenn auch ohne es zu wissen, viele und wichtige Gründe dafür.
Aber ich mußte mich doch fragen: Wenn es stimmte, was Bambi sagte, wieso waren dann Laf, Pandora und Zoe nach Hitlers Tod so gut davongekommen? Es gab noch einen weiteren seltsamen und beinahe beängstigenden Zufall in dieser Familiensaga. Es war das letzte, was mir einfiel, bevor ich für ein paar Stunden die Augen schloß.
Bambi hatte mir gesagt, diese Konfrontation zwischen ihrem Bruder Wolfgang und meinem Onkel Laf habe vor sieben Jahren – also 1982 -in Wien stattgefunden. Aber es war auch genau sieben Jahre her, daß mein Onkel Earnest starb und Sam das Runenmanuskript erbte – und dann plötzlich verschwunden war. Bis jetzt.
Bläulich, fast unheimlich leuchtend lag das weite Schneefeld vor dem nachtschwarzen Wald. Am dunkelblauen Sternenhimmel hing noch die Mondsichel. Kälte und Gefahr lagen in der Luft. Es hatte fast die ganze Nacht geschneit. Frische Spuren waren nirgends zu sehen. Ich lief bis zur Mitte des freien Felds, wo ich anhielt und mich umsah.
Im selben Augenblick traf mich ein Schneeball, hinter dem immerhin so viel Wucht steckte, daß er mir die Mütze vom Kopf fegte und mir ein kalter Schauer in den Nacken rieselte. Als ich mich umdrehte, sah ich eine Gestalt, die sich vom Waldrand löste, durch die Mondhelle huschte und wieder im Wald verschwand. Aber ein erhobener Arm signalisierte mir, daß es Sam war und daß ich ihm folgen sollte. Ich hob meine Mütze auf, lief über die Weide und tauchte in das silbrige Fichten- und Birkendickicht, wo er verschwunden war.
Ich blieb stehen und horchte. Von einer kleinen Anhöhe ertönte der Ruf einer Eule, der mich tiefer in den fast stockdunklen Wald hineinführte. Als ich nicht weiterwußte, blieb ich erneut stehen. Dann hörte ich ihn aus nächster Nähe flüstern:
«Hier, Ariel, halt fest. Ich führe dich.»
Er drückte mir den Teller seines Skistocks in die Hand und ging vor mir durch die Dunkelheit. Mit meinen zwei Skistöcken in der anderen Hand folgte ich ihm wie blind. Wir schlängelten uns eine ganze Weile zwischen Bäumen hindurch, dann ging es bergauf zu der hochgelegenen Wiese. Als wir sie schließlich erreicht hatten, leuchtete der Himmel bereits kobaltblau, und ich konnte Sams Gestalt vor mir erkennen.
Er wendete auf seinen Skiern
Weitere Kostenlose Bücher