New York - Love Story
Haare hängen wirr um meinen Kopf und bislang habe
ich nicht einmal Mascara aufgetragen.
»Okay«, seufze ich, da Madeleine ein Nein ohnehin nicht
akzeptieren wird.
Ratlos stehe ich kurz darauf vor Madeleines ausladendem
Schuhregal. Silberne Sandalen hat sie gesagt. Ich lasse meinen
Blick von links oben nach rechts unten wandern. Schwarze
Schuhe, rote Schuhe, weiße Schuhe, blaue Schuhe, sogar zwei
Paar goldene kann ich entdecken. Aber keine einzige silberne
Sandale.
Shit!
Die Zeit rennt mir davon. Ich muss mich doch noch
schminken und frisieren! Wo stecken bloß diese blöden Sandalen?
Im obersten Regalfach entdecke ich eine Reihe Schuhkartons.
Ich strecke die Arme danach aus, kann sie aber gerade
so mit den Fingerspitzen berühren.
Shit!
Ich bin einfach nicht
groß genug für diese Welt! Ein gepolsterter Hocker dient mir
als Trittleiter. Eine wackelige Angelegenheit, hoffentlich falle
ich nicht hinunter und verstauche mir den Knöchel. Das
könnte ich heute Abend gar nicht gebrauchen.
Ich ziehe den ersten Karton zu mir und öffne den Deckel:
braune Sandaletten. Der zweite: graue Pumps mit Keilabsatz.
Ein Riesenkarton, der mir beinahe aus den Händen rutscht:
Lammfellstiefel mit Pfennigabsatz. Wer trägt denn so was?
Der nächste Karton ist deutlich schwerer als die vorherigen.
Ich gerate gefährlich ins Wanken, während ich ihn anhebe.
Als ich den Deckel aufmache, erlebe ich eine Überraschung:
Darin befinden sich keine Schuhe, sondern Briefe. Zerknitterte
Kuverts mit rotblauen Streifen und Luftpost-Aufklebern.
Der Karton ist bis zum Rand damit gefüllt.
Ich sollte den Deckel zuklappen und den Karton wieder
an seinen Platz stellen, rät das Engelchen auf meiner Schulter.
Wenn Madeleine die Kiste hier oben im Regal zwischen
ihren teuren Schuhen versteckt, hat sie einen guten Grund
dafür. Und ich habe kein Recht zu erfahren, was es mit diesen
Briefen auf sich hat. Doch das Teufelchen brüllt lauter: nur
einmal schnell gucken!
Noch bevor ich mich bewusst entschieden habe, ob ich
auf Engelchen oder Teufelchen hören soll, ist mein Blick bereits
auf den obersten Umschlag gefallen. In geraden, harten
Buchstaben steht dort der Absender: Gideon Wissmann.
»Hast du sie gefunden?« Madeleine kommt immer noch
barfuß durch die Tür geschwebt. Eilig klappe ich den Deckel
zu und schiebe den Karton zurück an seinen Platz.
»Was machst du denn da oben?«, fragt Madeleine misstrauisch.
Hoffentlich hat sie nicht gesehen, welchen Karton
ich in den Händen hatte.
»Ich habe nach deinen Sandalen gesucht«, gebe ich möglichst
unbeteiligt zur Antwort. »Aber ich kann sie auch nicht
finden, sorry.«
»Dann nehme ich eben diese hier.« Madeleine greift nach
einem Paar schwarzer Sandaletten, die über und über mit
Strasssteinen besetzt sind. Sie passen hervorragend zu ihrem
Outfit. Während sie die Schuhe überstreift, ermahnt sie mich:
»Kommst du bitte. Wir müssen jetzt wirklich losfahren.«
Ich seufze lautlos, klettere vom Hocker und renne fast in
mein Zimmer. Erst als ich wenig später mit eilig gebürsteten
(nicht, wie geplant, hochgesteckten) Haaren und Minimal-
Make-up (Lidschatten, Lippenstift) in der Limousine sitze,
wird mir bewusst, was ich eben entdeckt habe: den Namen
von Davids Vater.
»Dann viel Spaß, Nicole.« Madeleine hakt sich bei Hugo unter
und verschwindet in der Menge. Irritiert schaue ich ihr
hinterher. Wir sind gerade erst angekommen und irgendwie
hatte ich nicht damit gerechnet, dass meine Gastmutter und
ihr Mann mich einfach hier stehen lassen würden.
Viel Spaß!
Wie soll ich bitte Spaß haben, wenn ich keinen einzigen Menschen
auf dem Ball kenne? Unsicher schaue ich mich um.
Madeleine und ihr Komitee für die Förderung junger
Künstler haben ganze Arbeit geleistet. »A Midsummer Night’s
Dream« lautet das Motto für den Wohltätigkeitsball – und
tatsächlich komme ich mir vor, als wäre ich in einen Traum
geraten. Videoprojektionen zaubern Wald- und Wasserwelten
an die stuckverzierten Wände des Festsaals, glitzernde
Glastropfen scheinen von der hohen Decke herabzuregnen,
unzählige Kerzen auf den Tischen und in Kronleuchtern sorgen
für geheimnisvoll flackerndes Licht. Die Kellnerinnen –
die garantiert alle bei einer Modelagentur unter Vertrag stehen
– tragen elfenhafte Kostüme mit schimmernden Flügeln
und servieren den unvermeidlichen Champagner. Eine Live-
Band spielt jazzige Hintergrundmusik. Automatisch scanne
ich die Musiker. Nein, keiner hat auch nur entfernt
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