New York - MERIAN Portraet
einem billigen Coffeeshop. Kaffee, Eier und Schinken, alles gleich gelblich, holt er sich aus dem Automaten. Er fühlt sich großartig als einsamer Cowboy in der großen Stadt.
Auf dem Weg zur Redaktion trifft er zufällig eine alte Bekannte aus der Heimat, die ihn zu einer Party einlädt, die am selben Abend in einer Wohnung am
Central Park
stattfindet. Die Gäste, die Musik – alles brasilianisch, viel Alkohol, viel Gefühl, schnelle Verbrüderung. »Und aus war es mit meiner romantischen Vorstellung, mich heldenhaft und allein durch den New Yorker Großstadtdschungel zu schlagen« , erinnert sich Tom Wolfe selbstironisch. »Ähnlich ernüchternd ging es dann weiter. In den nächsten Monaten stellte ich fest, wie unromantisch es ist, in einer vollen U-Bahn eingeklemmt zu sein.« Wenigstens sind die im New York der 60 er-Jahre noch vergleichsweise sicher, und selbst die Bronx, die Wolfe 20 Jahre später als Vorhof zur Hölle beschreiben wird, ist für weiße Greenhorns noch gefahrlos zu betreten.
Beim »Herald Tribune« ist Wolfe für die Spätschicht von 14 bis 22 Uhr eingeteilt. So kann er ausschlafen und nach Redaktionsschluss ins Nachtleben starten. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, die mit ihren Familien in einem Vorort wohnen und sich beeilen müssen, an der Grand Central Station den letzten Zug zu erwischen, wohnt er in Manhattan am
Gramercy Park
( ▶ G 4 ) . Ein paar Blocks weiter, in der 7 th Avenue, findet er einen Italiener, der ihm bis drei Uhr morgens Pizza serviert.
Aber die Großstadt hält auch Fallen bereit für den Provinzler aus dem verschlafenen
Richmond
, das die meisten Amerikaner nur wegen seiner Tabakindustrie kennen. Eines Abends steigt der junge Großstadtreporter in ein Taxi. Unterwegs stellt er fest, dass er nur ein paar Münzen dabei hat – insgesamt einen Dollar und einen Cent. Also nimmt er sich vor, den Fahrer beim Kilometerstand von 85 Cent zu stoppen. So kann er ein anständiges Trinkgeld geben und den Rest des Weges zu Fuß gehen.
Doch dann verpasst er den Moment, der Tachometer springt auf 90 Cent. Nun ist alles egal, denkt er sich und lässt den gelben Wagen bis zum exakten Stand von einem Dollar weiterfahren. Dann kramt er seine Münzen aus der Hosentasche, drückt sie dem Fahrer in die Hand und verschwindet rasch in der Einbahnstraße. Geschafft, denkt er in naiver Verkennung der Mentalität eines New Yorker Taxlers. Der setzt blitzschnell rückwärts, bis er den geizigen Fahrgast eingeholt hat. Dann schmeißt er ihm die Münzen ins Gesicht und gibt Gas. Kleinlaut kriecht Wolfe über das nasse Straßenpflaster und sammelt seine Cents wieder ein.
DANDY IM WEISSEN ANZUG MIT HUT UND STOCK
20 Jahre später hat sich Tom Wolfe in New York bestens eingelebt. Inzwischen trägt er obligatorisch weiße Anzüge, dazu den gleichfarbenen Hut und Spazierstock, den typischen Sonntagsstaat eines Plantagenbesitzers seiner Heimat, mit dem ostentativen Stolz eines Mannes, der sich längst eine eigene Kleiderordnung leisten kann – für Wolfe eine mehr als snobistische Kluft: ein Alleinstellungsmerkmal.
In der Tat hat er sich als Journalist einen Namen gemacht. Zusammen mit
Norman Mailer
, seinem Intimfeind,
Truman Capote, Hunter S. Thompson
und
Gay Talese
begründet Wolfe den »New Journalism«. Einen literarischen, subjektiv geprägten Reportagestil, der Recherche und romanhaften Erzählstil miteinander verbindet, und intelligent, spannend und unterhaltsam informiert. Mit seinem ersten Buch »Das bonbonfarbene, tangerinrot-gespritzte Stromlinienbaby« dokumentiert Wolfe die LSD -Trips der 60 er-Jahre und den Flirt der Boheme mit der Black-Power-Bewegung. Mit seinem New York-Roman »Fegefeuer der Eitelkeiten«, einer brillanten Schilderung der allgegenwärtigen Gier in einer auseinanderdriftenden multikulturellen Gesellschaft, trifft Wolfe Ende der 80 er den Nerv der Zeit. Die »New York Times« widmet nun dem verhinderten Kopierjungen eine Cover-Story.
Das Buch wird zunächst als Episodenstory im »Rolling Stone« veröffentlicht und später von
Brian de Palma
– leider sehr mittelmäßig – verfilmt. Im »Fegefeuer der Eitelkeiten« schildert Wolfe scharfsinnig und beklemmend die gesellschaftspolitschen Verhältnisse der Stadt. Mit feinem Gespür für ihre Menschen seziert er die ethnischen Milieus und Mentalitäten: die privilegierten weißen, anglo-sächsischen Protestanten ( WASP ), die grobschlächtigen irisch-katholischen Cops, ehrgeizige jüdische Staatsanwälte, bigotte
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