Nextopia
damals schwerpunktmäßig präsentierten, was jemand in seiner glorreichen Vergangenheit erreicht und vollbrachthatte, lenkt die Kontaktanzeige in der Erwartungsgesellschaft das Augenmerk darauf, wer der Betreffende in Zukunft sein wird, was er erreichen will und wird. Die Zukunft, nicht die Vergangenheit ist es, die einen Menschen interessant macht, sowohl für potenzielle Freunde und Partner als auch für den Menschen selbst. Vergiss, wer du bist. Wichtig ist, wer du sein wirst.
Ein weiterer Unterschied zwischen alten und neuen Kontaktanzeigen ist, dass damals ein oder zwei Ausbildungen, Arbeitsstellen und Weltreisen erwähnt wurden, während heutige Anzeigen mit einer Vielzahl verschiedener Ausbildungsgänge, Berufslaufbahnen und Reiseplänen angefüllt sind. In der Welt beliebiger Verfügbarkeit gibt sich niemand mit weniger zufrieden, denn man weiß ja, dass die Zukunft noch so viel bereithält: Wir wollen alles.
Jeder wirbt für sich allein
ES GIBT NOCH WEITERE UNTERSCHIEDE BEI NEUEN KONTAKTANZEIGEN. Abgesehen vom Inhalt hat sich auch die Form der Kontaktanzeigen verändert. Erstens müssen wir sie nicht mehr den Texterfassern bei Zeitschriften und Zeitungen diktieren, sondern wir schreiben sie selbst – und wir veröffentlichen sie auch selbst, online. Zweitens werden Kontaktanzeigen nicht mehr von Menschen geschrieben, die früher von vielen als verzweifelt Suchende betrachtet wurden. Die neue Art von Kontaktgesuchen wird von allen und jedem geschrieben. Von Menschen, die verzweifelt um die Aufmerksamkeit von allen und jedem buhlen.
Das Internet wird überrollt von Millionen Blogs. Von 3 Millionen im Jahr 2004 ist die Anzahl der Blogs bis Ende 2011 auf fast 200 Millionen explosionsartig angestiegen. Neue Blogs entstehen sekündlich. Im neuen Jahrtausend ist ein eigener Blog so selbstverständlich wie der Besitz von Papier und Bleistift.
Im Gegensatz zu Zeitungen und Zeitschriften, bei denen man höchstens einmal wöchentlich eine Kontaktanzeige veröffentlichen konnte (wenn man wirklich verzweifelt war), werden Blogs täglich aktualisiert, mindestens. Sobald ein neuer Text (oder eine Anzeige) veröffentlicht wird, ist er bereits veraltet. Die Nachricht von heute ist bereits die Nachricht von gestern. Um das Interesse und die Aufmerksamkeit der Menschen zu sichern, müssen wir ständig neues Material posten, damit die Erwartungen aufrechterhalten werden – »Weiteres in Kürze! Bleibt dran! Ich lasse aufregende neue Dinge geschehen!«
Und die Geschwindigkeit erhöht sich immer weiter. In der Welt beliebiger Verfügbarkeit, wo jeder Ihnen überall Ihren Platz im Rampenlicht streitig machen kann, reicht es nicht aus, einmal am Tag zu posten. Ihre fünfzehn Millisekunden Ruhm sind vorbei, bevor Sie auch nur zwinkern können. Blogs entwickeln sich zu Microblogs, wie Twitter, wo seit 2012 mehr als 500 Millionen Menschen stündlich oder minütlich neue Anzeigen über das Handy einstellen: »Bald mehr, bleiben Sie dran, in einer Minute geht’s weiter!«
Blogs werden schon bald durch andere Formen persönlicher Inserate ersetzt, in neuen Formaten, die schneller, besser zugänglich, aufmerksamkeitsstärker sind. Aber die Art und Weise, wie Blogs verwendet wurden, zeichnet ein erstaunliches Bild davon, wie wir unser eigenes Leben und das anderer betrachten. Im neuen Jahrtausend wurden Blogs das Äquivalent der Erwartungsgesellschaft zu einem jahrzehntealten Unterhaltungsformat, das als Soap Opera bekannt ist: Man bleibt ständig dran, um zu erfahren, was im nächsten Posting passiert, und klickt ungeduldig auf den »Aktualisieren«-Button.
In der Erwartungsgesellschaft entwickelt sich unser Leben zu persönlichen Soap Operas oder »Next Operas« , und wir bringen ständig Cliffhanger hinein, um Erwartungen über unsere künftigen Taten zu wecken und für die restliche Welt interessant zu bleiben. Kein Wunder, dass die jungen Menschen des neuen Jahrtausends als »Generation Stress« bezeichnet werden.
Anfang 2008 gab es 316
000 Websites zum Thema »Blogger-Burnout«. Wie eine Epidemie verbreitete sich der selbst auferlegte Druck, ständig die Next Opera herauszubringen und in rasantem Tempo neue Folgen zu produzieren, und löste bei den Menschen eine derartige Erschöpfung aus, dass sich überall auf der Welt Selbsthilfegruppen für ausgebrannte Blogger bildeten.
All die uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und all die zukünftigen Aktivitäten, die wir durchführen wollen, setzen uns unter eine
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