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Nexus

Nexus

Titel: Nexus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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für einen Menschen wie mich, der «wie ein Kuhschwanz hinterhertrottete», erreichbar sei, der ich mich wie ein Blinder ohne Stock weitertastete, verursachte mir die magnetische Kraft seiner Worte (die Alpen, der Apennin, Ravenna, Fiesole, die ungarische Tiefebene, die Insel St. Louis, Chartres, die Touraine, das Perigord .. .) einen Schmerz in der Magengrube — einen Schmerz, der sich langsam als eine Art Heimweh entpuppte, eine Sehnsucht nach dem «Reich auf der anderen Seite der Zeit und der Erscheinungen». (O Harry, wir müssen durch viel Dreck und Humbug waten, bevor wir nach Hause kommen!)
    Ja, Ulric, an jenem Tage hast du das Samenkorn in mich gelegt. Du gingst wieder in dein Atelier, um noch mehr Bananen und Ananas für die SaturcLay Evening Post zu malen, und ließest mich mit einer Vision weitergehen. Europa war in meiner Reichweite. Was bedeuteten zwei, fünf, ja zehn Jahre? Du überreichtest mir meinen Paß. Du wecktest in mir den schlafenden Führer: Heimweh .
    Hodie tibi, aas mihi!
    Als ich an jenem Nachmittag durch die Straßen ging, nahm ich bereits Abschied von den vertrauten Szenen des Schreckens und der Langeweile, morbider Monotonie, sanitärer Sterilität und liebeloser Liebe. Als ich die Fifth Avenue entlangging und mich wie ein Drahtwurm durch die kaufenden und ziellos schlendernden Massen schlängelte, erstickten mich fast die Verachtung und der Ekel, die ich gegen alles empfand, was mein Auge dort erblickte. Gott sei Dank, daß ich nicht mehr lange den Anblick dieser verkohlten Irrlichter, dieser wackligen Bauten der Neuen Welt, dieser häßlichen niederdrückenden Kirchen, dieser mit tauben und altersschwachen Personen bevölkerten Parks zu ertragen brauchte. Von der Straße unseres Schneiderladens bis zur Bowery (die Strecke, die ich in meiner Jugend so oft durchlaufen hatte) erlebte ich noch einmal die Tage meiner Lehrlingszeit, und sie erschien mir wie ein Jahrtausend des Elends, des Mißgeschicks und des Unglücks. Ein Jahrtausend der Entfremdung. Als ich mich Cooper Union näherte, wo mein Unbehagen immer den tiefsten Stand erreicht hatte, fielen mir Stellen aus jenen Büchern ein, die ich damals im Kopf geschrieben hatte. Sie waren die eingerollten Ecken eines Traumes, die sich nicht ausbügeln ließen. So würden sie immer herumflattern, diese eingerollten Ecken . . . von den Gesimsen jener elenden kackbraunen Baracken, jener armseligen Wirtschaften mit ihren Lattentüren, jenen stinkigen Obdachlosenheimen, wo die triefäugigen Strolche mit ihren Schellfischaugen wie Fliegengeschmeiß eng zusammenhockten. O Gott, wie elend sie aussahen, wie gänzlich mutlos, verwelkt und ausgehöhlt! Aber hier in dieser Mondkraterwelt hatte John Cowper Powys seine Vorträge gehalten, in die rußige, von Gestank erfüllte Luft seine Botschaff von der ewigen Welt des Geistes gesandt - des Geistes Europas, seines, unseres Europas, des Europa des Sophokles, Aristoteles, Piatons, Spinozas, Pico della Mirandolas, des Erasmus, Dantes, Goethes, Ibsens. In diesem selben Stadtteil waren auch andere, feurige Eiferer erschienen, hatten Ansprachen an die Massen gehalten und andere große Namen angerufen: Hegel, Marx, Lenin, Bakunin, Kropotkin, Engels, Shelley und Blake. Die Straßen waren noch immer dieselben oder hatten sich zum Schlimmeren verändert, atmeten weniger Hoffnung, weniger Gerechtigkeit, weniger Schönheit, weniger Harmonie. Es bestand nur geringe Aussicht, daß ein Thoreau, Whitman, ein John Brown oder ein Robert E. Lee erscheinen konnten. Der Massenmensch setzte sich durch, ein unmenschlich aussehendes Geschöpf, gelenkt von einem zentralen Schaltbrett, der weder ja noch nein sagen konnte, weder Recht noch Unrecht erkannte, aber immer in Reih und Glied blieb, im Gleichschritt auf der Stelle trat und dabei immer den Totenmarsch sang.
    «Lebt wohl, lebt wohl!» sagte ich im Vorübergehen. «Möchte dies alles der Teufel holen!» Aber keine Seele gab Antwort, nicht einmal eine Taube. «Seid ihr taub, schlafende Tollhäusler?»
    Ich gehe mitten durch die Zivilisation, und so sieht sie aus: Auf der einen Seite fließt die Kultur wie ein offener Abzugskanal, auf der anderen Seite sind die Schlachthäuser, wo alles an Haken hängt, aufgeschlitzt, blutig, von Fliegen und Maden wimmelnd. Der Boulevard des Lebens im zwanzigsten Jahrhundert. Ein Triumphbogen nach dem anderen. Roboter mit der Bibel in der einen Hand und einem Gewehr in der anderen. Lemminge, die dem Meer zueilen. Vorwärts, christliche

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