Nibelungen 04 - Das Nachtvolk
würde uns dann nichts mehr nutzen. Sie dürfen nicht erfahren, wo unsere Stadt liegt. Kommen sie hierher, und nur einem gelingt die Flucht, dann ist die Legende zerstört, daß kein Sterblicher das Reich des Nachtvolks betreten und wieder verlassen kann. Sie wü r den erkennen, was wir wirklich sind. Menschen, so wie sie. Sie würden wiederkehren, uns ihren Gott bringen und uns unte r werfen. Um unsere Freiheit zu behalten, müssen wir sie angre i fen, bevor sie in den Nebel kommen. Ganz gleich, wie groß u n sere Aussichten auf einen Erfolg sind!«
Volker musterte Ambiorix mißtrauisch. Er hatte gesagt, kein Sterblicher dürfe diese Stadt betreten und wieder verlassen. Dennoch hatte er ihm zuvor zur Flucht geraten. Es wäre wohl töricht zu glauben, daß er lebend den Rand der Sümpfe erre i chen konnte. Vermutlich würden ihm ein paar Bogenschützen folgen, sobald er die Stadt verließ. Doch vielleicht gab es noch einen anderen Weg. Der Spielmann lächelte höflich. »Ich danke dir für deinen Rat und werde ihn beherzigen.«
Der Alte erwiderte sein Lächeln, doch wirkte es maskenhaft und nicht aufrichtig. »Du bist ein Mann meiner Zunft, Sänger. Ich bin verpflichtet, dir zu helfen.«
15. KAPITEL
uf dem Rückweg von Berengars Zelt blieb Golo an einem der großen Signalfeuer stehen, die am Ufer der Waldinseln entfacht worden waren. Sie sollten der Flotte, die vielleicht schon in di e ser Nacht ankommen würde, den Weg durch die Sümpfe weisen. Mehr als dreißig Drachenschiffe sollten Nac h schub an L e bensmitteln, Waffen und Truppen bringen. Golo starrte in das gewaltige Feuer, das mit dem Holz des uralten Trophäenbaums gespeist wurde. Wie kleine Sterne stoben Fu n ken aus der Spitze der Flamme und stiegen zum Nachthimmel auf.
Den ganzen Tag über hatten sie darauf gewartet, daß die Feen aus dem Sumpf kamen. Doch sie schienen zu ahnen, daß der Bischof ihnen eine Falle stellen wollte. Kein Boot hatte sich auf dem Wasser gezeigt, und es war auch kein Sturm losgebrochen wie an jenem Morgen, an dem er mit Volker und Gwalchmai hierhergekommen war. Es schien, als würde die Macht des B i schofs über die Zauberkraft des Nachtvolks triumphieren. Dennoch hatte Jehan de Thenac doppelte Wachen für die Nacht eingeteilt. Ob er wohl mit einem Angriff rechnete? Die großen Feuer waren auch eine Provokation. Sie mußten auf viele Me i len im Sumpf zu sehen sein.
Die Flammen warfen breite Streifen aus rotgoldenem Licht auf das Wasser. Golo dachte an das Abendessen mit Berengar. Die Diener des Anführers der Ritter aus Armorika hatte gefüllte Wachteln und einen erlesenen Rotwein aufgetischt. Während des Mahls hatte er mit Berengar noch einmal über das Pfings t turnier gesprochen, und der Recke hatte ihn lachend für seine Kunst im Umgang mit der Lanze gelobt. Der ehemalige Knecht seufzte. Langsam begann ihm das Leben als Ritter zu gefallen. Der Bischof hatte ihm am Nachmittag ein Rittergut hier in den Sümpfen versprochen. Vielleicht würde er sogar Vogt über die eroberten Ländereien in den Sümpfen werden. Um seine Z u kunft brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen! Jehan de Thenac würde ihn gewiß gut versorgen.
Golo blickte zum Wasser. Er glaubte, außerhalb des Lichtkre i ses eine Bewegung gesehen zu haben. Ob die Schiffe sie schon gefunden hatten? Er kniff die Augen zusammen und spähte angestrengt in die Finsternis. Einige dünne Baumstämme tri e ben im Wasser. Dahinter konnte er schwach ein paar Kugeln, so groß wie Kohlköpfe, erkennen. Aber … Er fluchte. Das waren Schwimmer! Nur ein paar Schritt entfernt ertönte ein unte r drückter Schrei. Dicht neben dem Feuer war ein nackter Krieger aus dem Wasser gestiegen und hatte einem Wächter mit einem breiten Messer die Kehle durchgeschnitten. Golo machte einen Satz zurück und zog sein Schwert. Die Feen waren also doch noch gekommen!
Hinter ihm ertönten Alarmrufe. Feuerkugeln fielen wie Ster n schnuppen aus dem Nachthimmel. Zwei Zelte gingen in Fla m men auf. Jetzt konnte er auch am Waldrand nackte Krieger s e hen. Sie kamen von allen Seiten! Nur ein paar Schritte entfernt trat Berengar vor sein Zelt. Er trug einen langen Reiterschild und hatte ein blankes Schwert in der Hand.
»Männer aus Armorika, zu mir!« brüllte er über den Schlach t lärm hinweg und riß das Banner aus der Erde, das vor seinem Quartier aufgepflanzt war. Ringsherum kamen jetzt Krieger aus den Zelten gestürmt. Doch nur die wenigsten hatten die Zeit gefunden, ihre Brünne
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