Nibelungen 05 - Das Runenschwert
Reinholds!
Im Durchgang zum Speisesaal der Schwertburg, wo er Reinhold zu finden hoffte, schlugen Siegfried Gelächter und Gesang entgegen, der von Leiermusik begleitet wurde. Es hatte einen fahrenden Sänger auf die Burg verschlagen, einen noch sehr jungen Burschen, den sie Volker riefen.
Alle Holzbänke war voll besetzt. Einige Burgbewohner hockten sogar auf dem nackten Steinboden und hatten bei den niedrigen Tafeln keine Schwierigkeiten, die Speisen zu erreichen. Zwischen den Tafeln und Bänken eilten die Aufwärter mit großen Krügen und Platten umher, auf denen sich Fleisch, Fisch und Käse häuften. »Wer auf der Schwertburg lebt, arbeitet wie ein Knecht«, pflegte man zu sagen, »aber er tafelt wie ein König.«
Siegfried erhaschte die Blicke von Otter und Wieland, die an der Tafel der Schmiedeburschen saßen. Wieland sah nur kurz auf und widmete sich dann wieder der klobigen Hühnerkeule in seinen vor Fett triefenden Händen. Otter aber stellte den irdenen Bierkrug beiseite und schaute neugierig zu seinem königlichen Freund, der nach einwöchiger Abwesenheit zurückgekehrt war und noch keine fünf Worte mit ihm gewechselt hatte. Auch jetzt stand Siegfried nicht der Sinn nach einer Unterhaltung mit dem Findeljungen.
Der Xantener tat, als wische er sich etwas aus den Augen, um den Blicken Otters auszuweichen. Dann entdeckte er die Tafel der Schmiede, an der Reinhold saß. Seine dröhnende Stimme verstummte nur, wenn er von einer großen Pastete abbiß oder das silberbeschlagene Trinkhorn zum Mund führte.
Während Siegfried noch überlegte, ob es klug war, mit seinem geheimnisvollen Bündel unter dem Arm durch den Speisesaal zu gehen, stand Reinhold plötzlich auf, wischte mit einem fleckigen Tuch über seinen Mund und kam auf ihn zu. Unwillkürlich trat Siegfried ein, zwei Schritte zurück in den halbdunklen Steinbogen des Durchgangs.
»Lauf nicht fort, Siegfried!« rief Reinhold. »Meine Beine sind nicht mehr so jung, und ein Wettlauf wäre nach dem reichlichen Mahl für mich eine doppelt schwere Probe. Du bist doch gekommen, um mich zu sprechen, nicht wahr?« Er postierte sich vor Siegfried und hüllte ihn mit dem Geruch von süßlichem Met und einer würzigen Schinken-Zwiebel-Pastete ein.
»Ja, Meister Reinhold. Aber woher wißt Ihr…«
»Ich habe es gelesen.«
»Gelesen?« wiederholte Siegfried, ohne zu begreifen. In wenigen Tagen wollte er ein Mann sein, doch gegenüber Reinhold kam er sich oft noch wie ein dummer Junge vor.
»In deinen suchenden, fragenden Augen las ich es«, erklärte Reinhold. »Den Blick eines anderen zu lesen ist ebenso wichtig, wie Latein und Französisch zu verstehen. Zuweilen, besonders wenn es auf Leben und Tod geht, noch wichtiger.«
Siegfried nickte und sagte: »Ich will Euer Mahl nicht stören, aber ich möchte Euch etwas zeigen, Graf Reinhold.«
Der Waffenschmied deutete auf das zusammengelegte Wolltuch, das Siegfried bei sich trug.
Siegfried trat einen Schritt zur Seite, um Reinholds Stallmeister samt Frau und Kindern in den Speisesaal zu lassen, bevor er antwortete: »Bitte nicht hier, Meister. Ich möchte das Päckchen gern unter vier Augen öffnen.«
»Klingt geheimnisvoll«, brummte Reinhold mit leicht gerunzelter Stirn und lächelte dann. »Ich bin gesättigt, und die Dämmerstunde ist die rechte Zeit für ein solches Unterfangen. Geh also voran, ich folge dir!«
Erleichtert wandte sich Siegfried um und schritt hinaus auf den Burghof, der im bläulichen Abenddämmer lag. Aus einigen Fensteröffnungen drang Kerzenschimmer, der sich im Zwielicht des schwindenden Tages verlor. Knechte und Mägde liefen über den Hof, brachten Vorräte in die Küche oder versorgten die Tiere in den Stallungen. Das Meckern der Ziegen, das Blöken der Schafe und Rinder sowie Pferdegewieher bildeten einen eigenartigen Kontrast zu der Musik im Speisesaal.
Siegfried eilte weiter, auf der Suche nach einem verlassenen, ruhigen Ort. Die Schmiedehütten, die am Rand der Burganlagen einen hufeisenförmigen Hof bildeten, lagen schweigend und dunkel. Unter der alten Linde, die dem Schmiedehof ein natürliches Dach schenkte, hielt Siegfried an und blickte sich um.
»Außer uns ist niemand hier.« Reinhold wirkte belustigt. »Oder soll ich noch Wachen aufstellen, damit keiner den Hof betritt?«
Siegfried schüttelte den Kopf. Er kniete sich hin und wickelte das Tuch auseinander, das er auf den Boden unter der Linde legte. Der Himmel warf noch genug Licht, um die beiden
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